"Naatu Naatu": Das tanzbare Lied aus dem Actionepos "RRR" ging um die Welt. Bei den Oscars (s. o.) gewann es gar den Preis für den besten Filmsong.
Foto: AP

Sie kenne "Beispiele für Frauen, die beweisen, dass Alter, Rasse und Herkunft keine Rolle spielen", sagt Prashasti Singh: "Meghan Markle, Amal Clooney und Priyanka Chopra." Kurze Pause. "Solange sie eine sexy Figur haben." In den nächsten 15 Minuten zieht die indische Stand-up-Comedienne auf der Bühne über Zwangsehe, Dickpics und Sexmisserfolge her. In drei weiteren Folgen der Netflix-Serie Ladies Up machen es drei weitere Komikerinnen ihr nach.

2016 startete der kalifornische Streamer in Indien und schlägt seither wie andere große US-Plattformen neue Töne an. Neben den traditionellen Bollywoodfilmen investiert Netflix in unzählige Originalserien zeitgemäßeren Stils. Nach dem Vorbild der spanischen Netflix-Serie Elite erzählt etwa Class von einem verdächtigen Todesfall an einer Eliteschule mit Sex, Betrug und Schlägereien. Call my Agent: Bollywood ist ein Ableger des französischen Originals, einer Comedy über die nervenaufreibende Arbeit einer Künstleragentur – hier mit Sitz in Mumbai. Tandav läuft als indisches House of Cards, Scoop ist inspiriert von der Biografie einer Journalistin, die wegen Mordes an einem Kollegen im Gefängnis saß.

Foto: Fatih Aydogdu

Überbordendes indisches Kino

Geschichten, die auf der ganzen Welt funktionieren können – und es auch tun. Den internationalen Stil mit Bollywoodkitsch zu vermischen ist letztlich eine marktökonomische Entscheidung. Der produzierte Content will schließlich am weltweiten Markt genauso abgerufen werden.

Dass auf Netflix auch überbordendes indisches Kino funktioniert, beweist der enorme Erfolg des Action-Historien-Spektakels RRR, kurz für Rise Roar Revolt (aufstehen, brüllen, rebellieren). RRR zeigt außerdem, dass indisches Kino nicht gleich Bollywood ist. Der Starregisseur S. S. Rajamouli zählt sich zum Telugu-Kino, kurz Tollywood, der kommerziell erfolgreichsten Kinobranche Indiens, die sich seit den 2010er-Jahren auf panindisches Actionkino spezialisiert hat.

Das dreistündige Epos RRR hat sich im vergangenen Jahr auch im Westen überraschend zu einem kleinen Lauffeuer ausgebreitet. Nicht weil der Film über zwei Rebellen gegen die britische Kolonialherrschaft in den 1920er-Jahren im klassischen Sinne "gut" wäre. Er ist narrativ aufgebläht, die digitalen Effekte grenzen an Lächerlichkeit, die Rivalitäts- und Freundschaftsgeschichte ist alles andere als eine psychologische Meisterleistung, und die nationalistische Färbung springt das Publikum an wie der CGI-Tiger den Helden Bheem (N. T. Rama Rao Jr.).

Watch #NaatuNaatu Full Video Song from #RRR Telugu Movie. An M.M.Keeravaani Musical. Sung by Rahul Sipligunj & Kaala Bhairava.
Lahari Music | T-Series

Tanz den "Naatu Naatu"

Doch gerade dieses ungenierte Übermaß schien das von narrativer Meterware und perfekten HD-Bildern übersättigte westliche Publikum anzusprechen. Wo sieht man außerdem Männer, die in einem Augenblick mit Tigern ringen und im nächsten schon ausgelassen tanzen? Der Filmsong Naatu Naatu wurde eben als erstes Lied eines indischen Films mit einem Oscar ausgezeichnet, und der ausgelassene Tanz dazu ist zum weltweiten Social-Media-Phänomen geworden.

Der Kulturtransfer funktioniert im Idealfall in beide Richtungen: Bollywood verfügt im Westen über eine treue Fangemeinde. Die modern gefärbten Originalproduktionen der Streamer kommen beim indischen Publikum gut an, sind aber auch international gefragt.

Der indische Streamingmarkt ist heftig umkämpft. Disney kämpft mit seinem Angebot Hotstar gegen Netflix, Amazon und rund 40 weitere Onlineanbieter um ein potenzielles Millionenpublikum.

Preisträchtiges Stagediving im Film RRR.
Foto: AP

Schnell wachsendes Publikum

Als den "am schnellsten wachsenden Netflix-Markt der Welt" bezeichnet CEO Ted Sarandos das Angebot in Indien. Der Manager sprach von einem Wachstum beim Publikum von zuletzt 30 Prozent. Zahlen, die im Westen inzwischen außer Reichweite sind.

Der Konsum digitaler Inhalte nimmt dank erschwinglicher mobiler Tarife rasch zu. Seit günstige Abos fürs Smartphone angeboten werden, verändert sich das Konsumverhalten stark. Einem Bericht des Beratungsunternehmens KPMG zufolge konsumiert ein Zuschauer oder eine Zuschauerin in Indien rund 70 Minuten pro Tag sogenannter OTT-Inhalte – also solche, die mittels einer Internetverbindung angeboten werden, ohne dass ein Provider selbst Einfluss oder Kontrolle auf den Content hat.

Die große Präsenz verändert das kulturelle Verständnis der Erzählungen: Netflix setzte bei sich von Anfang an auf Vielfalt in der Besetzung. Unterschiede hinsichtlich Herkunft und Identität sind inzwischen aus Filmen und Serien nicht mehr wegzudenken. Auf die gleiche Art geht die Plattform in Indien vor: Während viele Bollywoodfilme patriarchale Erzählungen fortschreiben, fokussieren Streamer diversen Content, siehe Ladies Up. Nicht zum Gefallen der Regierung übrigens: Streamingplattformen stehen unter der strengen Aufsicht des indischen Rundfunkministeriums. (Valerie Dirk, Doris Priesching, 18.3.2023)