Die Auswirkung von Rassismus auf Betroffene kann als "Racial Trauma" bezeichnet werden. Ursache dafür sei meist nicht "nur ein Vorfall", sagt Psychologin Monnica Williams.

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Tritte gegen die Wohnungstür, starkes Klopfen von unten gegen die Decke, rassistische Beschimpfungen im Stiegenhaus. Das sind nur einige der Schikanen, die Familie K. in ihrem Wohnhaus in Wien erlebt. Nachdem die Familie ein Betretungsverbot der Nachbarn für das Stockwerk erwirkt, beschweren sich diese über angeblichen Lärm aus der Wohnung bei der Polizei, die dann nachts kommt und Familie K. weckt. Die Betroffenen schalten die Hausverwaltung ein, die bestätigt, dass aus der Wohnung der Familie kein Lärm dringt. Ein eingeleiteter Mediationsprozess ist erfolglos, die Situation bleibt belastend.

Auch der Besuch einer Schulveranstaltung an einem Jugendtheater ist für P. verstörend. In der Garderobe packt ihn eine Frau am T-Shirt und schüttelt ihn. "Aus welcher Wüste seid ihr denn entkommen?!", schreit sie ihn und seine Klassenkollegen an.

Das sind nur zwei von insgesamt 1.479 rassistischen Vorfällen, die die Initiative für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit (Zara) im vergangenen Jahr dokumentiert hat. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein, nur wenige Betroffene melden die Vorfälle oder zeigen sie an. Aber sie wirken nach.

Zusätzliche Belastung

"Rassismus beeinträchtigt die körperliche sowie mentale Gesundheit", schreibt die Philosophin und Autorin Amani Abuzahra auch im aktuellen Zara-Rassismus-Report, der am Dienstag erschienen ist. "Rassismus als ein gesellschaftliches System, das anders gelesene Menschen diskriminiert, unterdrückt auch die Emotionen der Betroffenen." Damit hätten genau jene, die diskriminiert und strukturell benachteiligt werden, weniger Möglichkeiten, dies zum Ausdruck zu bringen, kritisiert Abuzahra.

"Es ist frustrierend, niemanden dazu zu bringen, irgendetwas dagegen zu unternehmen", sagt Psychologieprofessorin Monnica Williams dem US-Fernsehsender CNN. Die Afroamerikanerin war zuletzt an ihrem Arbeitsplatz mit Rassismus durch einen Kollegen konfrontiert, bis sie schließlich ihren Job verlassen hat. "Die Situation ist für Betroffene außerdem zusätzlich erschwert, weil ihre Erfahrungen konstant geleugnet und ihnen nicht zugehört wird, während die Probleme immer schlimmer werden", erklärt sie. Nun leitet die Psychologin den Forschungsbereich für Ungleichheit in der mentalen Gesundheit an der University of Ottawa in Kanada.

Was kränkt, macht krank

Fortgesetzte und anhaltende Ausgrenzung, Degradierung, Diskriminierung könne psychische Erkrankungen zur Folge haben, von Dauerstress bis hin zu schweren psychischen Störungen. Zuletzt zeigte eine Untersuchung der Universität Wien anhand von 72 männlichen Immigranten aus der Türkei: Diejenigen, die nach eigenen Angaben oft ethnisch diskriminiert werden, hatten längerfristig höhere Konzentrationen des Stresshormons Kortisol. Wie das Studienteam um Psychologin Ricarda Nater-Mewes im Fachmagazin "Psychoneuroendocrinology" schreibt, ließ sich das aus ihren Haarproben ablesen.

Im Zuge der Studie versetzte das Studienteam die Probanden in eine Situation, wie sie für viele Betroffene Alltag ist: Ein Arzt behandelt die Testperson herablassend, hinterfragt ihre Deutschkenntnisse und kritisiert etwa, dass die meisten türkischen Patientinnen und Patienten nicht wirklich krank seien, sondern nur eine Krankschreibung wollten. Dass sie an einem simulierten Arzt-Patient-Gespräch teilnehmen würden, wussten die Probanden, aber nicht, dass es dabei um Diskriminierung ging. Sie konnten ihre Beteiligung jederzeit zurückziehen und um Hilfe bitten.

Interessanterweise stieg währenddessen bei den Probanden mit chronischer Diskriminierungserfahrung das Kortisol weniger stark an als bei jenen, die sagten, selten stigmatisiert zu werden, wie das Forschungsteam aus Speichelproben ableitete. Nater-Mewes zufolge können Menschen, die öfter diskriminiert werden, auf einzelne Ereignisse weniger stark reagieren: "Das biologische Stresssystem des Körpers kann sich quasi nicht mehr so aktivieren, es ist wie ausgelaugt", sagt die Psychologin.

Dennoch geraten auch bei ihnen die Stresssysteme des Körpers immer wieder aus der Balance. Wenn dies passiert, könne das "zum Entstehen von psychischen Störungen und körperlichen Krankheiten beitragen", betont Nater-Mewes. Beispiele zum Thema, die in wissenschaftlichen Studien untersucht wurden: Der Stress schlägt sich bei Schülerinnen und Schülern in schlechteren Leistungen nieder, Betroffene haben häufiger Schlafprobleme, Depressionen und Angststörungen sowie Psychosen. Personen mit Migrationserfahrung und deren Kinder, die häufig mit Rassismus konfrontiert werden, haben ein erhöhtes Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Der American Psychological Association zufolge leiden rassistisch Diskriminierte in den USA häufiger an posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) als weiße US-Amerikanerinnen und Amerikaner.

Betroffenen zuhören

Die Auswirkung von Rassismus und Diskriminierung auf Betroffene kann auch als "Racial Trauma" bezeichnet werden. Ursache dafür sei meist nicht "nur ein Vorfall", sagt Psychologin Monnica Williams, sondern vielmehr eine Anhäufung dieser bis zu einem Punkt, an dem Betroffene traumatisiert sind. Rassismuserfahrungen beginnen nämlich nicht erst da, wo Menschen beschimpft werden oder körperliche Gewalt erfahren, erklärt Psychotherapeutin Leonore Lerch im Gespräch mit dem STANDARD.

Oft seien es Situationen im Alltag, die zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität führen: Blicke in der U-Bahn, Kommentare in der Schlange im Supermarkt, Absagen von Vermieterinnen oder Arbeitgebern. Aber nicht nur direkte rassistische Handlungen gegenüber einer Person können laut der gemeinnützigen Organisation Mental Health America traumatisieren. Auch Berichte über Hasskriminalität wie Anschläge, die sich gezielt gegen eine Gruppe richten, oder generationsübergreifende Traumata wie bei Nachfahren von Holocaust-Opfern führen zu massiver psychischer Belastung. Der Verhaltensforscherin Natalie Slopen von der Harvard T. H. Chan School of Public Health zufolge könnten Traumata auch biologisch an die Nachkommen weitergegeben werden, durch epigenetische Veränderungen der DNA.

Eine anerkannte Diagnose ist "Racial Trauma" bislang jedoch nicht. Dabei wäre es laut Psychologin Williams wichtig, Rassismus als mögliche Ursache für eine Belastungsstörung zu benennen – nicht nur um richtige Diagnosen zu stellen, sondern auch um das Erlebte verarbeiten zu können. Damit das überhaupt gelingen kann, müssten die Stimmen von Betroffenen aber zunächst in der Gesellschaft Gehör finden. Das beschreibt auch Amani Abuzahra: "Das Sprechen darüber ist der erste Schritt in Richtung Entlastung, Heilung und Stärkung." (Anika Dang, Noura Maan, Julia Sica, 21.3.2023)