Mindestlohn, Tarifbindung, Fachkräftemangel: Hubertus Heil, hier im Deutschen Bundestag, ist für gleich mehrere politische Baustellen verantwortlich.

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Löhne, Fachkräftemangel, Zuwanderung von Arbeitskräften: Der deutsche Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) ist für ein breites Feld an Themen zuständig, die auch für Österreich höchst relevant sind.

STANDARD: Herr Heil, Deutschland hat im Oktober den Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde erhöht. Wie wirkt sich das im Arbeitsmarkt aus?

Heil: Zuerst einmal positiv. Vor allem haben 6,2 Millionen fleißige Menschen in wichtigen Berufen mehr Geld in der Tasche. Das ist für viele im Dienstleistungsbereich, vor allem Frauen, die höchste Lohnerhöhung ihres Lebens. Was die Arbeitsmarktentwicklung betrifft, sehen wir keine negativen Effekte. Im Gegenteil, trotz der Krise und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine haben wir die historisch höchste Beschäftigung im Land.

STANDARD: Es gab im Vorfeld die Kritik, der Mindestlohn könnte dazu führen, dass Unternehmen abwandern und die ohnehin hohe Inflation noch weiter steigt. Alles unbegründet?

Heil: Ja – die Inflationsentwicklung etwa liegt ja nicht an hohen Lohnabschlüssen, sondern daran, dass Putin auch Gas als Waffe einsetzt.

STANDARD: Dass es in Deutschland so viele Working Poor gibt, denen heute mit Mindestlöhnen geholfen werden muss, hängt auch mit der Arbeitsmarktpolitik Ihrer SPD zusammen – mit der Agenda 2010 unter Kanzler Gerhard Schröder. Bügeln Sie die Fehler der SPD-Vergangenheit aus?

Heil: Wir haben heute in Deutschland eine ganz andere Lage am Arbeitsmarkt als in den frühen 2000er-Jahren. Manches ist richtig gelaufen, manches falsch. Aber mein Blick geht nach vorn. Wir haben den Arbeitsmarkt gut durch die Krisen der vergangenen Jahre gebracht. Wir haben den Mindestlohn erhöht und werden durch mehr Tarifbindung für eine fairere Lohnentwicklung sorgen. Jetzt gilt es für unsere Volkswirtschaft, die benötigten Fach- und Arbeitskräfte zu gewinnen.

STANDARD: In Europa geht die Angst vor einer Deindustrialisierung um. Das hat unter anderem mit protektionistischen Maßnahmen in den USA zu tun, die Unternehmen anlocken sollen. Teilen Sie die Sorge?

Heil: Wir nehmen die Herausforderung an. Ein Investitionsprogramm für ökologischen Wandel in den USA ist nicht zu kritisieren – aber wo es protektionistisch gegenüber der EU wird, muss das geklärt werden. Hier laufen aber die Gespräche zwischen USA und EU.

STANDARD: Tut die EU genug gegen eine mögliche Deindustrialisierung?

Heil: Wir brauchen eine aktive Wirtschafts- und Industriepolitik in Europa. Unsere Wettbewerber in den USA und China betreiben sie ja ebenfalls. Ich wünsche mir in Europa mehr Tempo. Deutschland ist ein Land mit starker Automobilindustrie. Wir brauchen für die digitale und ökologische Modernisierung öffentliche Unterstützung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, etwa für die Produktion von Batteriezellen in Europa. Es sind zwar einige Projekte in Europa genehmigt worden, aber insgesamt gehen solche Prozesse zu langsam.

STANDARD: Gerade betreffend E-Mobilität, die Experten weithin für unumkehrbar halten, blockiert Ihr Koalitionspartner FDP das EU-Verbrennerverbot ab 2035. Bringt es nicht Probleme für das Autoland Deutschland, wenn Unternehmen nicht genau wissen, wohin die Reise geht?

Heil: Ich bin zuversichtlich, dass wir eine vernünftige Lösung hinbekommen. Die großen deutschen Automobilhersteller Volkswagen, BMW und Mercedes haben sich längst auf den Weg Richtung Elektromobilität gemacht. Die sogenannten E-Fuels braucht man weniger für Pkws, sondern eher für die Luftfahrt und für Lkws.

STANDARD: Viele Experten sehen das auch so, Ihr Koalitionspartner nicht.

Heil: Die Autoindustrie braucht Planungssicherheit. Wir arbeiten in unserer Koalition an Lösungen.

STANDARD: Sie planen eine sogenannte Bildungszeit in Deutschland, angelehnt an die österreichische Bildungskarenz. Was ist so gut daran?

Heil: Ausbildung ist die beste Eintrittskarte für ein selbstbestimmtes Erwerbsleben und Weiterbildung ein effektives Mittel zur Fachkräftesicherung. In Österreich gibt es die Bildungskarenz bereits seit 1998, und sie wurde laufend fortentwickelt. Wir sind sehr interessiert an Österreichs Erfahrungen. Entscheidend wird für uns sein, dass sich Arbeitgeber und Beschäftigte auf etwas einigen, das einen Bezug zum Arbeitsmarkt hat. Die Bildungszeit, die wir in Deutschland einführen, wird ein Instrument der beruflichen und nicht der allgemeinen Weiterbildung sein.

STANDARD: Ihr Paket gegen den Fachkräftemangel sieht außerdem mehr Zuwanderung von Staaten außerhalb der EU vor. In der EU gibt es schon 200 Millionen Arbeitskräfte, die arbeiten dürfen, wo immer sie wollen. Reicht das nicht?

Heil: Wir müssen alle einheimischen Potenziale nutzen, aber das wird nicht reichen. Für den Arbeitsmarkt der Zukunft schaffen wir ein modernes Einwanderungsgesetz. In den Jahren vor der Pandemie sind jährlich bereits rund 250.000 EU-Bürgerinnen und -Bürger nach Deutschland gekommen. Die deutsche Volkswirtschaft würde ohne EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht laufen. Aber: Viele Länder in der EU haben eine ganz ähnliche Demografie wie Deutschland. Überall altert die Bevölkerung. Deshalb sind wir in Deutschland auch auf qualifizierte Einwanderung aus Drittstaaten angewiesen, wenn wir wirtschaftlich stark bleiben wollen.

STANDARD: Würde ein Politiker in Österreich das sagen – auch von den Sozialdemokraten –, würden viele warnen: Vorsicht, damit stärkt man die Rechtspopulisten!

Heil: Beim Thema Migration braucht es Vernunft und Ordnung, um unsere Gesellschaften zusammenzuhalten. Deshalb muss man sauber sortieren, über welche Form der Migration man spricht. Wir sind uns einig, dass wir irreguläre Migration reduzieren müssen. Aber qualifizierte Einwanderung für den Arbeitsmarkt ist eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Und in Deutschland sieht das die Mehrheit der Menschen so.

STANDARD: In Österreich droht gerade eine Spaltung der Sozialdemokratie. Ein Kandidat setzt auf das Migrationsthema; die Parteichefin ignoriert es eher. Wie sollen moderne Sozialdemokraten mit dieser Frage umgehen?

Heil: Ich werde meiner Schwesterpartei SPÖ keine öffentlichen Ratschläge erteilen. Meine Erfahrung ist, dass wir an solche Themen realistisch und ohne Angst herangehen müssen. Mir ist es in solchen Debatten wichtig, die Themen gut zu trennen: Es gibt humanitäre Verpflichtungen auf Basis von Verfassung und Asylrecht, qualifizierte Zuwanderung für den Arbeitsmarkt und schließlich irreguläre Migration, die wir reduzieren müssen – alles unterschiedliche Dinge. Die Sozialdemokratie muss solche Themen mit Vernunft und Augenmaß angehen. Der Unterschied zu den Rechtsextremen ist, dass wir Menschen nicht gegeneinander ausspielen, einen realistischen Blick auf die soziale Wirklichkeit haben und keine Ressentiments schüren.

STANDARD: Die deutsche Kaufhauskette Karstadt Kaufhof, die dem österreichischen Milliardär René Benko gehört, kündigt Standortschließungen an. Zuvor kam sie in den Genuss hoher Staatshilfen. Wie kommentieren Sie das?

Heil: Ich hätte mir gewünscht, dass betriebsbedingte Kündigungen vermieden worden wären. Es ist bitter zu sehen, dass Beschäftigte, die gute Arbeit leisten, für krasse Managementfehler der Vergangenheit büßen müssen. Ich halte es auch für nicht akzeptabel, dass selbst rentable Kaufhäuser geschlossen werden sollen. Es gibt, höflich ausgedrückt, einen ziemlichen Groll über das Verhalten des Managements. Alle Beteiligten müssen jetzt dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berufliche Perspektiven bekommen. (Joseph Gepp, 19.3.2023)