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Das exakte Datum ist nicht bekannt, aber irgendwann in den kommenden Tagen dürfte es so weit sein. Dann wird Indien zum bevölkerungsreichsten Land der Welt werden und damit China vom Thron stoßen, das diesen Platz ab 1950 innehatte. Mehr als 1,4 Milliarden Menschen leben derzeit auf dem Subkontinent. Und das ist nicht die einzige beeindruckende Zahl. Eine bunt gemischte Auswahl: Indien ist so jung wie kein anderes entwickeltes Land. 40 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 – weltweit gesehen ist jeder Fünfte unter 25 Inder.

Indiens Wirtschaft expandiert rapide. Die Wirtschaftsleistung soll heuer um 6,1 und im kommenden Jahr um 6,8 Prozent wachsen. Indien wäre damit das sich am dynamischsten entwickelnde Industrie- und Schwellenland und würde selbst China in den Schatten stellen. Indien hat die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien überholt und ist zur fünftgrößten Volkswirtschaft aufgestiegen. Aber das Land will mehr und hinter den USA und China zur globalen Nummer drei werden. "Indien ist auf dem besten Weg, mittelfristig das wichtigste Land der Welt zu werden", verkündete der Ökonom Nouriel Roubini vor wenigen Wochen.


Aufschwung und Schattenseiten

Aber wie kommt es zu diesem bemerkenswerten Aufschwung, wie nachhaltig ist er, und wo liegen seine Schattenseiten? Und lässt sich Indiens neue ökonomische Macht auch in politisches Kapital umwandeln?

Lange Zeit tauchte Indien in den internationalen Schlagzeilen nur auf, wenn es entweder wieder einmal mit einem seiner Nachbarn, allen voran Pakistan, in Konflikt geraten war oder eine Hungerkrise drohte. Bis vor gut zehn Jahren war der Staat kaum in der Lage, seine Bevölkerung anständig zu ernähren. 40 Prozent der indischen Kinder galten als unterernährt, das war die zweithöchste Quote der Welt. Von 1000 Kindern starben 56 noch vor dem fünften Lebensjahr, in Österreich sind es um die vier. Heute hat sich diese Zahl halbiert. 400 Millionen Inderinnen und Inder sind der bittersten Form der Armut allein in den vergangenen 20 Jahren entkommen, wie eine Studie der Oxford University kürzlich feststellte. Die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) unter Premier Narendra Modi stellt diesen Erfolg zur Schau, wo sie nur kann.

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"Extremste Form der Armut nahezu ausgelöscht"

Anfang März fand in Delhi die Raisina-Konferenz statt, bei der Indien Jahr für Jahr Politikerinnen und Politiker, Ökonominnen und Ökonomen aus aller Welt einlädt. Schon die Gästeliste offenbarte die Bedeutung Neu-Delhis: Von US-Außenminister Anthony Blinken und EU-Außenbeauftragtem Josep Borell abwärts saßen prominente Gäste im Publikum.

"Wir haben die extremste Form der Armut nahezu ausgelöscht", verkündete Baijayant Panda, Vizepräsident der indischen Regierungspartei BJP, stolz vor den internationalen Gästen. Schnell ratterte er einige Kennzahlen des Erfolges herunter: Noch vor sieben Jahren gab es keine 700 Start-ups im Land, heute seien es mehr als 85.000. In wenigen Jahren sei eine halbe Milliarde neuer Bankkonten eröffnet worden, dem Staat sei es gelungen, einen beträchtlichen Teil der Schattenwirtschaft zu legalisieren und damit neue Steuereinnahmen zu erschließen.

Der Weg dorthin führte über neue Technologien, meint der indische Politiker Panda. Indien sei zu einem Land digitaler Transaktionen geworden dank des "Unified Payment Interface", das hier alle kurz UPI nennen. Das System ermöglicht Transaktionen über Handys. Von der Tuk-Tuk-Fahrt bis zum Snack am Verkaufsstand kann alles via Handy bezahlt werden. In der Pandemie konnte der Staat an geschlossene Unternehmen und arbeitslos gewordene Bürgerinnen hunderte Milliarden Indischer Rupien überweisen "ohne, dass auch nur ein Cent verlorengegangen wäre", sagt Politiker Panda in Anspielung auf Korruption.

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Was Delhi fordert

Vom Armenhaus zu einer Hightechnation also. Längst wäre es an der Zeit, dass sich dieses Gewicht auch international niederschlägt, fordert Delhi. So strebt Indien seit langem schon einen permanenten Sitz im Uno-Sicherheitsrat an. Im mächtigsten Uno-Gremium haben diese Rolle immer noch bloß die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien inne. Die Institution spiegelt vielleicht eine Nachkriegsordnung wider, aber nicht die diverse Welt von heute, in der sich die Machtverhältnisse verschoben haben. "Wie lang soll Indien noch warten?", fragte Premier Modi schon 2020 vor der Uno-Generalversammlung.

"Noch vor 20 Jahren hatten 40 Prozent der Haushalte keinen Zugang zu Strom. Heute sind 99 Prozent ans Netz angeschlossen." Energieexperte Ashwini Swain

Unter Modis Führung gibt sich Indien in den vergangenen Jahren zunehmend selbstsicherer. Als aktuelles Vorsitzland der G20, also der 20 wirtschaftsstärksten Nationen der Welt, fühlt sich Indien auch in einer politischen Führungsrolle sichtlich wohl. Die Regierung rückt Nahrungsmittelsicherheit, die hohen Energiepreise und Wirtschaftswachstum in den Fokus. Das alles sind Themen, die für einen großen Teil der nichtwestlichen Welt von lebenswichtiger Relevanz sind. So will Indien das Sprachrohr des Globalen Südens sein. Dort gebe es viel Frust darüber, dass die "Sorgen von einem Großteil der Welt nicht gehört werden", sagte Außenminister Subrahmanyam Jaishankar etwa zum STANDARD.

Und eine Weltmacht Indien möchte auf Multilateralismus setzen: Indien, der Vermittler, Indien, der Brückenbauer der Welt. Dieser Zugang ist keineswegs neu. Dieser Kern der indischen Außenpolitik hat schon lange Tradition. Das Land hat die Idee der "blockfreien Staaten" mitgeprägt, als sich zur Zeit des Kalten Kriegs immer mehr Staaten gezwungen sahen, sich entweder auf die Seite der USA oder der Sowjetunion zu schlagen. Indien entzog sich damals solchen Zuschreibungen – und tut es auch heute.

Irritationsfaktor Ukraine

Besonders schmerzlich für Europa und die USA ist dieser indische Zugang bei der Ukraine. Wie kann es sein, fragen sich Europäer und US-Amerikaner, dass die "größte Demokratie der Welt" den Krieg in der Ukraine nicht verurteilen will? Die Regierung in Delhi betonte zwar, gegen den Konflikt zu sein, Dialog und Frieden seien notwendig. "Es ist nicht die Zeit für Krieg", waren Modis bis dato stärkste Worte im vergangenen Herbst gegenüber Putin. Doch eine Verurteilung bleibt aus.

Tatsächlich profitiert Indien massiv vom billigen russischen Öl am Markt. Seit Kriegsbeginn sind die russischen Exporte nach Indien um ein 14-Faches gestiegen, Indien ist nun der größte Käufer russischen Öls. Auch die Rüstungskooperationen mit Moskau gingen trotz Krieges munter weiter. Wieder stellt sich Europa die Frage: Lassen sich mit Russland, das ein anderes souveränes Land überfallen hat, weiter Waffengeschäfte betreiben?

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Zentrale Lage

Die klare Antwort aus Indien lautet: Ja. Es könne nicht sein, dass Europa Interessen habe, und Indien bloß Prinzipien, predigt Außenminister Jaishankar. Immerhin existiert die Kooperation mit Russland seit Jahrzehnten. Jener indische Multilateralismus ist zweifelsohne gerade in Bezug auf Russland schwer zu verdauen. Doch für Indien ergibt diese Äquidistanz zu globalen Partnern Sinn.

Das hat viele Gründe, ein gewichtiger ist sicherlich einfach die Geografie, also Indiens zentrale Lage. Von Osten und Westen brachten die saisonalen Winde seit jeher Schiffe und Handel an die Küsten des Subkontinents, der im Norden durch das größte Gebirge, den Himalaja, von China und Zentralasien getrennt ist. Die Moderne hat viele dieser Hindernisse überwunden, doch im Kern bleibt es dabei: Es dient den indischen Anliegen, äquidistant zu agieren. Russland, Europa, USA, Japan, Iran, Myanmar: Alle können den Interessen Indiens dienen. Oft ist Indien dabei leiser Partner, der ohne viel Furore viele Kommunikationskanäle gleichzeitig bedient.

Narendra Modi ist seit 2014 Premierminister. Wie ein Guru lenkt er Indien Richtung globale Supermacht.
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Streit um Kaschmir

Fett unterstrichene Ausnahme ist natürlich Pakistan, mit dem sich Indien seit der Teilung über Kaschmir streitet. Zur weiteren Ausnahme wird zusehends China. Anders als zum Erzfeind Pakistan im Norden sind die Beziehungen zu China noch viel komplexer. Da gab es den Krieg 1962, den Indien verloren hat. Da gibt es den ungeklärten Grenzverlauf. Doch da gibt es auch verzahnte Wirtschaften zwischen Indien und China. Über mehrere Jahrzehnte war die Devise zwischen den zwei Staaten im Großen und Ganzen: Leben und leben lassen.

Doch seit dem großen Aufschwung Chinas ändert sich das. China will mehr. Im Sommer 2020 starben mehrere Dutzend Soldaten bei Zusammenstößen an der chinesisch-indischen Grenze im Westhimalaja. Bereits drei Jahre zuvor war es zu einer Pattsituation im Dreiländereck Indien, China, Bhutan gekommen. Noch gibt es gute Kommunikationskanäle, um Zwischenfälle niederschwellig zu klären. Doch die Vorfälle häufen sich. Ein starkes China versus ein immer stärkeres Indien trägt die Ingredienzen für einen brandgefährlichen Krisenherd der Zukunft.

Indiens Aufholjagd

Doch wo steht Indien im Vergleich zu China? Kann das Land tatsächlich mithalten, wenn es um Größe und Macht weltweit geht? Indien hat nicht den Weg Chinas gewählt und ist bis heute keine zweite Werkbank der Welt geworden – bis heute exportieren indische Unternehmen nur einen Bruchteil dessen, was China ausführt. Aber eine Reihe von Reformen und eine Portion Glück haben zum Aufschwung geführt. Indien stand Anfang der 1990er-Jahre am Rande des Bankrotts.

Die Wirtschaft funktionierte damals im Grunde halbkapitalistisch, erzählt Österreichs Wirtschaftsdelegierter in Delhi, Hans-Jörg Hörtnagl. Es gab umfangreiche staatliche Produktionsvorgaben für Betriebe und hohe Einfuhrzölle, um die Industrie gegen Importe zu schützen. Indien hatte sich ab seiner Unabhängigkeit 1947 wirtschaftlich weitgehend abgeschottet. Während dieses Modell aufstrebenden asiatischen Ländern wie Südkorea und dann China zum Erfolg verhalf, blieb Indien damit allen voran eines: arm.

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Binnenmarkt

Eine wachsende Industrie abschotten war nämlich nur die eine Zutat des Erfolges dieser Staaten. Der andere lautete Export von Elektronik und Fahrzeugen wie im Falle Südkoreas oder Textilien und dann Mikrochips wie bei China. Doch Indien hatte dem Weltmarkt lange wenig zu bieten.

1990 wurde auf internationalen Druck hin eine Öffnung eingeleitet – Indien musste an Devisen herankommen, um eine Pleite zu verhindern. Das brachte einen ersten Wachstumsschub, wenn auch der Wohlstandszuwachs ungleich verteilt war. Aber immerhin kamen um die Jahrtausendwende westliche Investitionen. Im südindischen Bangalore schufen Microsoft, American Express, die Großbank HSBC und Oracle zehntausende Arbeitsplätze mit outgesourcten Callcentern und IT-Support.

Nach dem ersten Sprung ist Indien dabei, den nächsten zu versuchen. Ein Baustein dafür war, einen echten indischen Binnenmarkt zu schaffen. Im Juli 2017 wurde die umfassendste Steuerreform seit Jahrzehnten durchgeführt. Bis dahin hatten die Bundesstaaten eigene Konsumsteuern erhoben, das Ergebnis war ein Wirrwarr an Abgaben, die vereinheitlicht wurden. Diese Reform und die elektronische Zahlungsabwicklung via Handy haben dem Staat neue Einnahmequellen eröffnet. Gepaart mit der jungen Bevölkerung wagt sich Indien nun an die Industrialisierung.

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Fehlern ausländischer Investitionen

Indiens Industriesektor ist im globalen Maßstab nicht viel mehr als ein Zwerg. Die Industrie trägt aktuell um die 14 Prozent zur Wirtschaftleistung bei, es fehlt an ausländischen Investitionen. Indien liefert bloß zwei Prozent der globalen Exporte. Was im Land produziert wird, landet vor allem am lokalen Markt. Der Staat will das gerade ändern. Als glückliche Fügung könnte sich dabei für Neu-Delhi erweisen, dass die Spannungen zwischen den USA, Europa, Japan auf der einen Seite und China auf der anderen zunehmen. Viele westliche Unternehmen suchen nach Alternativen für ihre Produktionsstandorte. Das liegt auch am Anstieg der Lohnstückkosten, die in China heute viermal so hoch sind wie in Indien. Im Economist ist die Rede vom "alternative Asian supply chain – Altasia".

Um Industrie anzulocken, planen die Inder enorme Infrastrukturinvestitionen in das Autobahnnetz und bei der Eisenbahn. Der Eisenbahnsektor ist auch einer der Bereiche, in dem sich österreichische Konzerne wie Plasser, die Voestalpine und der Sensorenhersteller Frauscher erfolgreich Projekte angeln konnten. Und bei Seilbahnen: Die Tiroler Bernard-Gruppe erstellt mit Salzmann Ingenieure derzeit für zwölf Standorte Machbarkeitsstudien für Seilbahnprojekte, etwa in der Pilgerstadt Varanasi in Nordindien. Die Strabag, die schon Tunnel für die moderne Metro Delhis gebaut hat, erhielt 2021 den Zuschlag, um Tunnelausrüstung für die neue Eisenbahnverbindung zwischen Delhi und Meerut zu liefern.

Indien ist vom Klimawandel stark betroffen. Dürren oder wie hier Überschwemmungen bringen den Alltag von Millionen Menschen regelmäßig durcheinander.
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Stromausfälle keine Seltenheit

Neben Infrastruktur sei das zweite Standbein die Energie, sagt Ashwini Swain vom Centre for Policy Research (CPR) in Neu-Delhi. Indien investiert enorm, um die Stromproduktion auszubauen. "Noch vor 20 Jahren hatten 40 Prozent der Haushalte keinen Zugang zu Strom", sagt Swain, "heute sind 99 Prozent ans Netz angeschlossen." Wobei Probleme bleiben: Auf dem Land sind stundenlange Stromausfälle keine Seltenheit. Indien muss innerhalb von weniger als zehn Jahren seine Stromerzeugung verdoppeln. Dafür baut es neue Kohlekraftwerke. Aber ein zunehmender Anteil soll aus erneuerbaren Quellen stammen, das ist auch Indiens Zugeständnis an die Pariser Klimaziele. Bis 2030 will Indien so 450 Gigawatt Strom erzeugen, fast eine Vervierfachung der aktuellen Kapazitäten.

Indien ist also ein stark wachsendes, technologisch aufstrebendes und selbstbewusstes Land. Doch es gibt auch Schattenseiten.

400 Millionen Menschen mögen aus der extremen Armut aufgestiegen sein. Aber immer noch gelten 230 Millionen Menschen als extrem arm. Die Einkommensschere klafft weit auseinander. Da gibt es einerseits die Multimilliardäre, die im Gleichschritt mit der Politik ein unfassbares Vermögen anhäufen (siehe Wissen unten). Aber wer auch nur in die Vororte Delhis fährt, sieht heruntergekommene Slums. Auch in quirligen Stadtteilen Delhis lässt sich Armut oft kaum verstecken. Kaufkraftbereinigt liegt Indiens Wirtschaftsleistung pro Kopf bei gerade 9000 Dollar, in Österreich bei fast 70.000 und in China bei 23.000. Es ist kein Zufall, dass im vergangenen Jahr die meisten Asylanträge in Österreich von Indern gestellt wurden, die mangels Perspektive und Arbeit ihr Land verließen.

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Hartes Pflaster für Frauen

Genauso weit klafft die Realität von Frauen in dem riesigen Land auseinander. Einerseits brachte Indien so mächtige Politikerinnen wie Indira Gandhi hervor, manche Bundesstaaten werden heute von Frauen regiert. Doch andererseits sorgen Vergewaltigungen immer wieder für internationale Schlagzeilen. Aktivistinnen im Land kritisieren, dass immer noch die Männer entscheiden, wer im Land was werden kann. Indien hat eine der weltweit niedrigsten Frauenerwerbsquoten. Auch einer der Unterschiede zu China, wo Frauen stärker eingebunden sind.

Manche meinen, ein weiterer Unterschied Chinas zu Indien liege im politischen System: Wenn im autokratischen China die Führung Maßnahmen anordnet, dann werden diese ohne Veto umgesetzt, und das meist rasch. Im demokratischen Indien ist die Sache schwieriger. Mit seinen 28 Bundesstaaten ist das Land äußerst divers, es gibt 22 Amtssprachen. Für die Zentralregierung ist es nicht immer leicht, sich nach unten durchzusetzen.

Unterwanderte Institutionen

Doch ist es wirklich so einfach? Kann man Indiens verspätete Entwicklung wirklich auf einen Systemunterschied reduzieren? Indien selbst lehnt die Einteilung in Autokratie versus Demokratie tendenziell ab. Diese Einteilung greife schlicht zu kurz.

Das hat wohl auch damit zu tun, dass Indien selbst immer öfter mit Vorwürfen konfrontiert ist, dass unter Modi die demokratischen Institutionen zunehmend unterwandert würden. Vor wenigen Wochen ging die Regierung gegen eine BBC-Doku über Modi vor, die den Regierungschef kritisch darstellt. Als 2002 in Gujarat ein wütender Hindu-Mob auf Muslime losging, starben über 1000 Menschen. Die Doku kam zu dem Schluss, dass Modi direkt für die Gewalt verantwortlich sei.

Religiöse Gewalt unter Modi

In den vergangenen Jahren hat die "kommunale Gewalt", wie solche Ausschreitungen genannt werden, zugenommen. Den Begriff "Hindu-Nationalismus" lehnt Modis Partei ab. Dahinter verbirgt sich aber die Gesinnung, hinduistische Kultur zu fördern. Die große muslimische Minderheit des Landes etwa werde zu Bürgern zweiter Klasse gemacht, lautet ein häufiger Vorwurf. Außerdem habe sich Modi verschiedene demokratische Institutionen zu eigen gemacht: Bürokratie, Justiz, Presse – alles stehe mittlerweile unter der Kontrolle von Modis BJP.

Modi selbst gibt keine Interviews. Auf Twitter gehört er zu jenen mit den weltweit meisten Followern. Der unverheiratete Modi bedient für das indische Publikum gekonnt die Rolle des Gurus, der einmal im Jahr in die Berge meditieren geht, aber hart durchgreift, wenn es sein muss.

Die Opposition, allen voran die ehemals starke Kongress-Traditionspartei, wirkt hilflos. Das liegt einerseits an den schwachen Führungspersönlichkeiten des einst so mächtigen Gandhi-Clans. Aber auch an der aggressiven Ellbogenpolitik der regierenden BJP.

Frauen demonstrieren weiter für mehr Rechte.
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Schlüsselpartner im Indopazifik

Die Partner im Westen stellen diese Entwicklungen vor Fragen. Doch aus westlicher Sicht ist Indien die stärkste Alternative in Asien zu China. Ein Indien in den Händen eines starken Mannes wie Modi ist aus westlicher Sicht besser als ein Subkontinent ohne starke Führung oder festgefahren in internen Konflikten. Das Land wird immer mehr zum Schlüsselpartner im Indopazifik.

Ein Schauplatz, an dem sich Indiens Großmachtbestrebungen ebenfalls zeigen, ist Afrika. Anders als Europa will Indien den Partnern dort auf Augenhöhe begegnen. Das Handelsvolumen zwischen Indien und dem Kontinent ist rasant gestiegen.

So will Indien von einer gewissen China-Müdigkeit profitieren und auf Süd-Süd-Beziehungen setzen, die teilweise Generationen zurückreichen. Doch auch hier läuft nicht alles rosig. "Landgrabbing", also der Aufkauf von Land in großem Stil durch indische Firmen für die Nahrungsproduktion, ist vor allem in Äthiopien und im Sudan ein Problem. Immer öfter protestiert die Bevölkerung.

Wie sagte Roubini: Indien ist auf dem Weg, zum wichtigsten Land der Welt zu werden. Auch wenn das zu hoch gegriffen sein mag, eines ist sicher: Die Zukunft wird indischer. (Anna Sawerthal, András Szigetvari, 18.3.2023)

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