In Wahrheit haben Rad- und Autofahren einiges gemeinsam. Zum Beispiel die Tatsache, dass Tempobolzen fast immer sinnlos ist. Wobei wir hier wohlgemerkt nicht von Trainingseinheiten reden, in denen es schon Sinn machen kann, den Puls zu beschleunigen und ins Schwitzen zu kommen – sondern vom Radeln in die oder eigentlich zur Arbeit. "Und da hab ich alles richtig gemacht, wenn ich nicht verschwitzt ankomme", sagt der Sportmediziner Robert Fritz.

Sportmediziner Robert Fritz: "Ein Radweg ist für die Gemeinschaft da, nicht fürs Rennradtraining."

Fritz ist selbst begeisterter Läufer und Radfahrer, zudem Chefmediziner des Vienna City Marathon und des Asics Österreichischen Frauenlaufs. "Jede Bewegung zählt", hebt er den Trainingseffekt hervor, den selbst eher gemütliches Radfahren zwecks Fortbewegung habe. "Fünfmal pro Woche zwanzig bis dreißig Minuten mit niedriger oder mittlerer Intensität radeln, damit ist man schon nahe an der WHO-Mindestempfehlung." Es sei schlimm genug, dass sich nur knapp ein Viertel der Bevölkerung in diesem mindestens nötigen Ausmaß bewege. Fritz: "Wir schauen Fußball und Formel 1 im TV und glauben, dass wir sportlich sind."

Wieso aber nicht gleich voll in die Pedale treten auf dem Weg zum Büro? Vielleicht gibt es dort ja sogar die Möglichkeit, zu duschen oder zumindest sich umzuziehen. Der Sportarzt schüttelt dennoch den Kopf, wenn er an die Tempobolzer denkt, die sich auf schmalen Radwegen an der langsamen Masse vorbeizwängen. "Ein Radweg ist für die Gemeinschaft da", sagt Fritz, "und nicht fürs Rennradtraining."

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Der Zeitgewinn bei ein paar km/h mehr ist überschaubar, das Risiko rücksichtsloser Überholmanöver steht sich nicht dafür, oft kommen bei der nächsten roten Ampel sowieso alle wieder zusammen. Den Puls unmittelbar vor der Arbeit oder danach auf Teufel komm raus hinaufzukurbeln ist laut Fritz nicht anzuraten. Schließlich sollte Bewegung genau dann "extrem stresssenkend" wirken und nicht Stress verursachen. Wer es nicht eilig hat, ist meistens auch rücksichtsvoller. Robert Fritz bewegt sich selbst oft radelnd, aber manchmal auch mit dem Pkw durch die Stadt und sagt: "Es fällt mir nichts von meinem Ego ab, wenn ich als Autofahrer einem Radfahrer Vorrang gebe. Oder auch umgekehrt."

Überdurchschnittlich "gesund"

Radfahren gilt auch deshalb als überdurchschnittlich "gesund", weil es zu den Low-Impact-Sportarten zählt. Das Körpergewicht wird vom Rad getragen, die Gelenke werden kaum belastet. Das Herz-Kreislauf-System profitiert, die Ausdauer wird trainiert, die Muskeln strengen sich an. Wer radelt, schläft auch besser.

Doch wieso fahren viele Menschen, die es durchaus draufhätten, nicht mit dem Rad, sondern lieber öffentlich oder mit dem Auto zur Arbeit? Oft wird argumentiert, dass Fahrradfahren in der Stadt nicht ungefährlich sei. Fritz kann es da und dort nachvollziehen. Jenen, die zum ersten Mal zur Arbeit radeln, rät er jedenfalls, sich vorher die Strecke zu überlegen. "Oft ist der direkte Weg nicht der schönste. Kleine Umwege können sich auszahlen. Und wirklich viel Zeit verliert man garantiert nicht." Das Radwegenetz habe nicht nur in Wien, sondern praktisch landesweit Ausbaubedarf: "Viele Städte sind alles andere als optimal fürs Radfahren, man müsste sie umbauen, mehr Rad- und Gehwege schaffen."

Kathrin Ivancsits von der Mobilitätsagentur Wien: "Die Verkehrsplanung in Österreich ist eher autozentristisch."

Bei Kathrin Ivancsits, der Sprecherin der Mobilitätsagentur Wien, läuft der Sportarzt damit quasi eine offene Türe ein. "Es gibt Länder mit einer fahrradzentristischen Verkehrsplanung, wohingegen die Verkehrsplanung in Österreich eher autozentristisch ist", sagt Ivancsits. "Aber pauschal lässt sich sagen, dass Wien investiert und die Radinfrastruktur ausbaut."

Wie viele Menschen es sind, die den Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad zurücklegen? Dazu gibt es keine genauen Angaben. Schließlich haben beispielsweise die 18 automatischen Zählstellen in Wien keine Ahnung, wer gerade wohin unterwegs ist. 11,7 Millionen Radfahrende wurden im Vorjahr gezählt, das allein sagt insofern nicht rasend viel aus, als es 2021 noch fünf Zählstellen weniger gab. Bei den 13 Zählstellen, deren Daten sich vergleichen lassen, kam heraus, dass das Radverkehrsaufkommen von 2021 auf 2022 in etwa gleich geblieben ist.

Mehr mag verraten, dass in Wien etwa neun Prozent aller Wege mit Fahrrädern zurückgelegt werden. Das Radverkehrsnetz wächst kontinuierlich, in wenigen Jahren wird es 2.000 Kilometer umfassen. Schön wäre es, würde es sich dabei nur um eigene Radwege handeln – es werden aber auch Fahrradstreifen auf Autofahrbahnen mitgerechnet.

Mobilitätsprogramme

Die Mobilitätsagentur will Menschen zum Radfahren animieren, sei es für den Arbeitsweg oder aus sonstigen Gründen. Der Hebel wird früh angesetzt, in Kindergärten und Schulen. Im Vorjahr nahmen mehr als 6.000 Kinder an sogenannten Mobilitätsprogrammen teil. "Wenn es uns gelingt, die Kinder zu motivieren", sagt Ivancsits, "dann gelingt es oft den Kindern, dass die Eltern mitziehen." In Kooperation mit dem ÖAMTC werden auch Fahrradkurse für Erwachsene angeboten, darauf führt ist zurückzuführen, dass mittlerweile immer mehr Frauen mit Migrationshintergrund in die Pedale treten. "In ihren Herkunftsländern", sagt Ivancsits, "haben sie Radfahren schlicht und ergreifend nicht gelernt."

Die Aktion Job-Rad-Modell des Umweltministeriums würde mehr Popularität verdienen. Über sie können sich Betriebe alltagstaugliche Dienstfahrräder für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern lassen, mit oder ohne E-Antrieb.

Ernsthaft jetzt, E-Antrieb, wo wir doch vom sportlichen Wert des Radelns reden? "Warum nicht?", fragt der Sportarzt Fritz zurück. "Wenn ich mit dem E-Bike zur Arbeit radle, kann ich den Motor einschalten und komme völlig entspannt an. Und nach Hause radle ich dann ohne Motor." Und wenn wir schon bei der Ausrüstung sind, führt am Ende auch an einer Selbstverständlichkeit kein (Rad-)Weg vorbei: "Ich habe wirklich lange nachgedacht", sagt Robert Fritz. "Aber ich habe kein einziges vernünftiges Argument gegen das Tragen eines Helms gefunden." (Fritz Neumann, 18.3.2023)