Einst Powerpaar, nun für das Chaos in der SNP mitverantwortlich: Nicola Sturgeon und Peter Murrell.

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Gut eine Woche, ehe die Nachfolge von Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon geklärt werden soll, steht die schottische Nationalpartei SNP vor einem Scherbenhaufen. Wegen hartnäckiger Lügen über die Mitgliederzahl der bei weitem mächtigsten Gruppierung in Edinburgh mussten der Pressesprecher sowie der Generalsekretär ihre Hüte nehmen. Unterdessen liefern die drei Rivalinnen und Rivalen um Parteivorsitz und höchstes Regierungsamt der Opposition mit heftigen gegenseitigen Vorwürfen wunderbare Munition.

Sturgeon, 52, hatte nach gut acht Jahren im Amt und zahlreichen Wahlerfolgen Mitte Februar ihren Rückzug angekündigt. Zwar führte die für hervorragende politische Kommunikation bekannte Politikerin persönliche Motive ins Feld; ausschlaggebend dürften in Wirklichkeit aber ein hochumstrittenes neues Transsexuellen-Gesetz sowie der parteiinterne Streit um die beste Strategie für Schottlands Unabhängigkeit gewesen sein.

"Interne Gegensätze"

Seit Sturgeons überraschender Mitteilung offenbaren sich im Nationalistenlager die zwar längst bekannten, bisher aber durch eiserne Disziplin weitgehend verdeckten "internen Gegensätze", von denen beispielsweise der Sozialwissenschaftler Jan Eichhorn von der Uni Edinburgh spricht. An erster Stelle steht dabei das Ziel der Loslösung vom Vereinigten Königreich, zu dem Schottland seit 1707 gehört.

Das Ergebnis der Volksabstimmung von 2014 – 55 zu 45 Prozent für die Union – sollte eigentlich für eine Generation gelten. Seit dem Brexit, gegen den 62 Prozent der Schotten votierten, agitieren die Nationalisten allerdings für eine zweite Abstimmung, was die konservative Zentralregierung in London unter Premier Rishi Sunak strikt ablehnt. Dadurch geriet die als vorsichtige Taktiererin geltende Sturgeon mehr und mehr unter Zugzwang der Draufgänger innerhalb und außerhalb der SNP. Zuletzt wollte sie die spätestens 2024 anstehende Unterhauswahl zum Schatten-Referendum umfunktionieren. Diese dubiose Idee dürfte durch ihren Rücktritt vom Tisch sein.

Kritik vor allem an Peter Murrell

Immer stärker wurde in den vergangenen Jahren auch das Gemaule all jener, die mit der stalinistischen Vorgehensweise der Parteiführung unzufrieden waren. Die Kritik richtete sich weniger gegen die Vorsitzende als vielmehr gegen den Generalsekretär ("chief executive"). Diese Rolle des wichtigsten Administrators bekleidete seit der Jahrhundertwende Peter Murrell.

Der begnadete Strippenzieher, 58, trug entscheidend dazu bei, dass die unbedeutende Regionalpartei mit damals fünf Sitzen im Londoner Unterhaus und einer untergeordneten Oppositionsrolle im schottischen Parlament zur drittwichtigsten politischen Gruppierung des Landes wurde.

45 Abgeordnete im Unterhaus, fast die Mehrheit der Sitze in Edinburgh, Hunderte von Kommunalmandaten – die seit 16 Jahren regierende Partei dominiert Schottlands Politik. Aber Entscheidungen wurden immer häufiger von einer kleinen Kabale getroffen, deren Herzstück Sturgeon und Murrell war. Kein Wunder: Das Paar ist seit langem auch privat liiert, seit 2010 verheiratet.

Medien sollten ausgeschlossen werden

Dass die Machtfülle des Powerpaares zu Fehlern führte, haben die Ereignisse der vergangenen Wochen bewiesen. Allzu eindeutig ließ die Parteispitze erkennen, dass sie Gesundheitsminister Humza Yousaf als ihren Favoriten sah. Von dessen parteiinternen Vorstellungsrunden mit den beiden anderen Bewerberinnen, Finanzministerin Kate Forbes und Ex-Justizstaatssekretärin Ash Regan, sollten die Medien ausgeschlossen bleiben – eine absurde Idee, die auch alsbald zurückgezogen wurde.

Hingegen blieb es wochenlang beim Rätselraten über die Unabhängigkeit des Wahlverfahrens und die Zahl der Wahlberechtigten. Kontinuierlich belog die Parteispitze die Medien mit der Behauptung, es gebe "gut 100.000" SNP-Mitglieder. Ende vergangener Woche kamen die korrekten Zahlen ans Licht: Besaßen 2019 noch mehr als 125.000 Schotten die Mitgliedskarte, war die Zahl zuletzt auf 72.186 Menschen gesunken. Umgehend trat Parteisprecher Murray Foote zurück. In Murrells Fall musste erst der Vorstand mit einem Misstrauensvotum drohen, ehe auch der Strippenzieher am Samstag seinen Hut nahm.

"Gewaltiges Schlamassel"

Von einem "gewaltigen Schlamassel" sprach Michael Russell, der nun die SNP-Geschäfte vorübergehend führt. Schon zweifeln manche Beobachter in Edinburgh daran, dass der Wahlvorgang ordnungsgemäß am kommenden Montag zu einem Ergebnis führen wird. In Umfragen lagen Forbes und Yousaf vorn. Die Wahl ihres Kabinettskollegen wäre "ein Programm der Mittelmäßigkeit", glaubt die 32-Jährige, die dem 37-Jährigen mehrfach dessen wenig erfolgreiche Regierungsarbeit in unterschiedlichen Ressorts vorwarf.

An Forbes gibt es heftige Kritik wegen ihres Weltbildes. Sie halte Sex außerhalb der Ehe sowie Abtreibungen für falsch, hat das Mitglied einer Freikirche mitgeteilt; sie werde aber die geltenden Gesetze, darunter auch die gleichgeschlechtliche Ehe, verteidigen: "Ich glaube fest an die angeborene Würde jedes Menschen."

Wer auch immer der lange Zeit unangefochtenen Sturgeon nachfolgt: Die Opposition im Edinburgher Parlament kann ihre Begeisterung über die SNP-Querelen nur schwer verbergen. (Sebastian Borger aus London, 19.3.2023)