Im Rahmen seines G20-Vorsitzes präsentiert sich Indien als aufstrebende Digitalnation. Allerdings wird in keinem anderen Land der Welt der Internetzugang so häufig per behördliche Anordnung abgeschaltet.

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Indien ist mit 1,4 Milliarden Einwohnern die bei weitem größte Demokratie der Welt. Allerdings eine, in der die seit 2014 von Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen Partei Bharatiya Janata geführte Regierung zunehmend autokratische Tendenzen zeigt. So ließ sie etwa die Ausstrahlung einer BBC-Dokumentation zu Unruhen in Modis Heimatbundesstaat Gujarat im Jahr 2002 mit Notstandsgesetzen unterbinden und wies auch Online-Netzwerke an, Uploads und Links zu entfernen.

Damals war ein mit hinduistischen Pilgern besetzter Zug aus bis heute ungeklärten Ursachen in Brand geraten. Hindu-Nationalisten stellten den Vorfall als Anschlag muslimischer Extremisten dar, und es kam zu teilweise pogromartigen Ausschreitungen. Offiziellen Zahlen zufolge kamen dabei über 1.000 Menschen zu Tode, der Großteil davon Muslime. Inoffiziellen Schätzungen zufolge könnte die Anzahl der Opfer aber mehr als doppelt so hoch sein. Die Auseinandersetzungen führten zur Vertreibung von etwa 150.000 Menschen, der Plünderung zahlreicher Geschäfte und der Zerstörung von 270 Moscheen. Modi, damals Chef der Regionalregierung, wird vorgeworfen, sich mit den Nationalisten gemein gemacht und absichtlich nur zögerlich auf die Krise reagiert zu haben.

Suche nach Sikh-Separatisten

Die große Macht des Staates zeigt sich auch in weitreichenden Befugnissen in Bezug auf Telekommunikation. Demonstriert wurde sie nun kürzlich im Rahmen einer Fahndung, berichtet die "Washington Post".

Die Behörden versuchten den Sikh-Separatisten Amritpal Singh aufzuspüren, dessen Aufenthalt im Bundesstaat Punjab vermutet wurde. Er gilt als prominente Figur innerhalb einer Bewegung, deren Ziel es ist, in der mehrheitlich von Sikh bevölkerten Region einen eigenen Staat namens Khalistan zu errichten. Dabei wird mitunter auch zu Gewalt gegriffen, so stürmten Singhs Anhänger im Februar einen Polizeiposten, um einen Gefangenen aus ihrer Bewegung zu befreien.

Internet-Blackout für 27 Millionen

Um die Organisation von Protesten zu erschweren sowie die Verbreitung von Gerüchten zu unterbinden, wurde durch die von der oppositionellen Aam-Admi-Partei kontrollierte Regionalregierung ein De-facto-Blackout für mobiles Internet verfügt. Darüber hinaus wurde auch der SMS-Versand mit Ausnahme von Bestätigungsnachrichten von Banken und ähnlichen Services lahmgelegt, einzig Sprachanrufe waren von der Maßnahme nicht betroffen.

In Kraft traten die Einschränkungen gegen Samstagmittag Ortszeit im gesamten Bundesstaat, in dem 27 Millionen Menschen leben. Auch am Sonntag waren die Verbindungen weiter unterbrochen, die Aufhebung war zuletzt ein zweites Mal bis Dienstagmittag verlängert worden. Singh ist weiter auf der Flucht, die Behörden nahmen nach eigenen Angaben aber etwa 80 seiner Anhänger fest, die sich – teils bewaffnet mit Speeren und Schwertern – zu Protesten versammelt hatten.

"Digitalnation" führt Shutdown-Statistik an

Es ist längst nicht das erste Mal, dass die Behörden den Internetzugang abdrehen lassen. Laut der New Yorker NGO Access Now ist Indien bei dieser Maßnahme besonders freizügig. 2022 zählte man weltweit 187 angeordnete Shutdowns, Indien verantwortete davon mit 84 fast die Hälfte und liegt damit das vierte Jahr in Folge an der Spitze. Da auf diesem Wege auch journalistische Arbeit behindert wird, könnte eine solche Maßnahme die Verbreitung von Gerüchten und Entstehung gewalttätiger Auseinandersetzungen begünstigen, kritisiert die Organisation.

Laut dem Software Freedom Law Center (SFLC) in Delhi treffen Abschaltungen in der Regel nicht Bundesstaaten wie Punjab, sondern vor allem den von vielen Muslimen bewohnten Norden des Landes. Meistens allerdings nur auf Bezirksebene, Abschaltungen für ganze Bundesstaaten waren bisher Ausnahmefälle. Nachdem die Regierung 2019 den semiautonomen Status von Kashmir aufgehoben hatte, kam es dort zu einer Welle an Protesten. Auch hier wurde mit einer Abschaltung der Internetverbindungen reagiert, die 19 Monate andauerte. Die SFLC hat das Thema mittlerweile vor das Höchstgericht gebracht, das einer Anhörung zugestimmt hat.

Im Rahmen seines aktuellen G20-Vorsitzes positionierte sich Indien als Digitalnation und Start-up-Brutstätte. Man möchte den Zahlungsverkehr und viele staatliche Dienstleistungen weitgehend in die Online-Sphäre verlagern. Mit den häufigen Netzabschaltungen würde man die eigenen Ambitionen untergraben, argumentiert das SFLC: "Wenn man über das ,digitale Indien' spricht, dann darf so etwas nicht passieren." (gpi, 20.3.23)