Sie liegen in verdunkelten Räumen, können nicht selbst essen oder auf die Toilette gehen – so sieht das Leben vieler ME/CFS-Betroffener aus.

Foto: LEA ARING

Milena Hermisson liegt in einem dunklen Raum, die Augen sind bedeckt. Lärm versuchen die Eltern der 20-Jährigen fernzuhalten. Durch Licht oder Geräusche ausgelöster Stress könnte eine weitere Verschlimmerung verursachen. Das passierte zuletzt im Herbst 2020. Seither ist die junge Frau komplett pflegebedürftig. Ernährt wird sie über eine Schnabeltasse, in die pürierte Speisen kommen. Mehrmals am Tag muss sie auf einen Toilettenstuhl gehoben werden, ihre Eltern betreuen sie rund um die Uhr. Die junge Frau leidet an Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS. Ein grippaler Infekt im Jahr 2018 war der Auslöser, danach verschlechterte sich ihr Zustand stetig.

VIDEOREPORTAGE: Simone und Sarah leiden am Chronischen Fatigue-Syndrom – eine mögliche Folge einer Coronavirus-Infektion. Unser Videoteam hat sie einen Tag in ihrem Alltag begleitet.



DER STANDARD

ME/CFS führt in Österreich ein Schattendasein. Es handelt sich dabei um eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung, die je nach Ausprägung zu schweren körperlichen Einschränkungen, Verlust der Arbeitsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit bis hin zu künstlicher Ernährung führen kann. Hauptsymptom ist die Belastungsintoleranz Post Exertional Malaise (PEM). Der Zustand der Betroffenen verschlechtert sich nach körperlicher und/oder mentaler Anstrengung. Dies tritt mit etwa 24 bis 72 Stunden Verzögerung auf und kann Stunden, Tage oder dauerhaft anhalten. Ein Großteil der Betroffenen ist nicht arbeitsfähig, ein Viertel kann das Haus nicht verlassen. Frauen erkranken deutlich häufiger daran als Männer.

Seit 1969 ist ME/CFS von der WHO klassifiziert, trotzdem fehlt es dramatisch an Wissen. Nach offiziellen Daten der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) wurde die Diagnose österreichweit 5597-mal gestellt. Das ist aber mit Sicherheit stark unterdiagnostiziert. Laut internationaler Studien liegt die Prävalenz zwischen 0,3 und 0,9 Prozent der Bevölkerung, was 26.000 bis 80.000 Betroffene ergeben würde. Die deutsche Immunologin Carmen Scheibenbogen, eine international anerkannte Koryphäe bei dieser Erkrankung, rechnet mit einer Prävalenz von 0,4 Prozent, das wären in Österreich etwa 36.000 Betroffene.

200 Prozent mehr Betroffene durch Pandemie

Durch die Pandemie dürfte sich die Prävalenz um etwa 200 Prozent steigern, wie Scheibenbogen schätzt. Denn auch eine Corona-Infektion kann ME/CFS auslösen wie etwa auch Influenza oder das Epstein-Barr-Virus. Trotzdem ist das Krankheitsbild hierzulande noch relativ unbekannt, wird oft auch als psychosomatisch abgetan. Internationale Studien gehen davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der Betroffenen nicht richtig diagnostiziert werden.

Es besteht auch so gut wie keine Möglichkeit, eine Diagnose zu bekommen. Denn es gibt nur wenige Ärztinnen und Ärzte, die auf das Thema spezialisiert sind, diese sind meist in Privatordination und hoffnungslos überlaufen. Öffentliche Anlaufstelle gibt es in Österreich keine einzige. Gleichzeitig ist das Krankheitsbild in österreichischen Ordinationen und Spitälern weitgehend unbekannt, wie auch Betroffene immer wieder erzählen. "Wir haben bei Arztbesuchen zwei Mappen dabei. Eine mit den Befunden und eine mit Informationen zum Krankheitsbild", erzählt Elisabeth Toifl, ebenfalls ME/CFS-Betroffene. Bei der 33-Jährigen musste 2021 im Wiener AKH eine parenterale Ernährung eingeleitet werden, weil sie nicht mehr ausreichend essen konnte. Und dort musste sie mit den Oberärzten diskutieren, ob die Krankheit ME/CFS überhaupt existiert. "Die Schwere der Krankheit wird nicht anerkannt, man bekommt falsche Befunde und Tipps wie: Man solle doch mehr Sport machen. Dabei macht genau das alles noch schlimmer."

Fehlende Anerkennung bei Ärzten

Dazu kommt, dass die Krankheit, trotz WHO-Klassifizierung, oft als psychosomatisch eingestuft wird. So etwa auch in einer aktuellen Übersichtsarbeit zu ME/CFS, die von Mitgliedern der Neurologie des Wiener AKH und der Universitätsklinik Tulln verfasst wurde und jüngst in der Zeitschrift "Der Nervenarzt" erschienen ist. Nicht zuletzt aufgrund der relevanten psychiatrischen Komorbiditätsrate sei bei ME/CFS eine psychosomatische Ursache der Erkrankung zu diskutieren, ist dort nachzulesen.

Im Gespräch mit dem STANDARD wollte sich kein Neurologe mit Expertise oder Interessenvertreter zu dem Paper äußern. Die Immunologin Eva Untersmayr-Elsenhuber von der Med-Uni Wien, die auch zu ME/CFS forscht, kann nicht beurteilen, wie es zu diesem Überblicksartikel gekommen ist. Aber: "Meines Erachtens spricht die Evidenz dagegen. Aber ich bin keine Neurologin, ich kann das nur aus immunologischer Sicht bewerten." Sie fordert mehr Forschung und Forschungsunterstützung: "Ich denke, je mehr Forschungstätigkeit zu einem Thema in einem Land passiert, desto eher wird es sichtbar und akzeptiert. Die Evidenzgenerierung ist bei diesem Krankheitsbild extrem wichtig, und die ist in Österreich wohl etwas zu kurz gekommen."

Heike Grebien von den Grünen, die sich für ME/CFS-Betroffene engagiert, gibt zu der Übersichtsarbeit einen diplomatischen Kommentar. Zwar gebe es jene Neurologen, die eine psychosomatische Ursache für ME/CFS vermuten, aber: "Es gibt Neurologen, die haben eine ganz klare andere Meinung. Und die WHO hat auch eine andere Meinung."

Zuspitzung durch Corona

Um eine bessere Versorgung zu erreichen, hat die Betroffenenorganisation ÖG ME/CFS eine Petition im Parlament eingereicht, diese wird am Mittwoch im Petitionsausschuss behandelt. Die Gesundheitssprecherinnen und -sprecher der Parteien stehen auf STANDARD-Nachfrage der Petition prinzipiell positiv gegenüber. Da es durch die Pandemie und Long Covid so viel mehr Betroffene gibt, ist die Krankheit zumindest etwas bekannter geworden. Eine davon ist Lisa Hofer, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Ihr Verlauf war eigentlich mild, doch schon bald verspürte sie eine unglaubliche Erschöpfung. "Es ist so, als würde man mit 39 Grad Fieber aufstehen. Nur dass man gar kein Fieber hat", beschreibt sie.

Jetzt liegt es am österreichischen Gesundheitssystem, den Herausforderungen von ME/CFS zu begegnen. Doch das tut sich schwer, weil die Zuständigkeiten nicht gebündelt sind. Diese sind auf Bund und Länder aufgeteilt, Sozialversicherung und Gesundheitskassen sind gegenüber dem Ministerium nicht weisungsgebunden. Das Sozialministerium hofft, dass im Zuge der Verhandlungen über den Finanzausgleich eine Lösung gefunden werden kann, um den Betroffenen endlich zu helfen. Die Frage ist nur, wie lange die am schwersten Leidenden noch durchhalten. (Pia Kruckenhauser, Levin Wotke, 22.3.2023)