Viele Unternehmen orientieren sich weitgehend an rückwärtsgewandten Indikatoren. Dabei wäre ein Abschied vom alten wichtig für eine erfolgreiche Zukunft.

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Viele Unternehmen hadern beim Thema Transformation, ganz zu schweigen von präventiver Transformation, obgleich es deutliche Hinweise darauf gibt, dass Letztere sogar viel wahrscheinlicher zum Erfolg führt, kostengünstiger ist und zudem zu höheren Erträgen beiträgt. Zunächst ist dies sicherlich dem Umstand geschuldet, dass Umstrukturierungen kostspielig sind, die Aufmerksamkeit des Managements binden und in der Regel auch zu Ablenkungen oder Instabilitäten führen.

Ein gelebter Konservatismus – "warum etwas reparieren, das nicht kaputt ist" – sowie die Selbstzufriedenheit, die sich üblicherweise nach einem unternehmerischen Erfolg einstellt, können dann einem Gefühl der Dringlichkeit schon einmal kräftig entgegenwirken.

Raffen sich Unternehmen dennoch auf, um auf störende Einflüsse aus der Umwelt zu reagieren, so folgen ihre Prozesse und Denkweisen allzu oft denselben ausgetretenen Pfaden und Interessen wie bisher. Die gelebte Praxis in der heutigen Unternehmenswelt macht ein Abwenden vom Gewohnten auch nicht gerade leicht, orientiert sie sich doch weitgehend an rückwärtsgewandten Indikatoren wie Ertrag, Gewinn oder Cashflow. Implizit wird davon ausgegangen, dass der Erfolg der Vergangenheit auf den zukünftigen Erfolg schließen lässt.

Neue Wege beschreiten...

Die Vorhersagekraft historischer Daten soll hier nun nicht in Zweifel gezogen werden, aber die hohen Veränderungsraten und die Unsicherheiten, die durch die Weiterentwicklung von Technologien, Geschäftsmodellen und anderen Faktoren entstehen, machen diese Annahme zunehmend unhaltbar. Die Fahrt in die Ungewissheit der Zukunft wird mit einem verharrenden Blick in den Rückspiegel nicht sicherer. Es braucht neue Ansätze, das Äquivalent eines "Hard Reset" etwa, das einen dazu zwingt, das mentale Modell der Welt neu aufzusetzen, um aus dem gewohnten, prozessgesteuerten Trott herauszukommen.

Strategiearbeit, die bewusst mit dem Ziel angegangen wird, sich spielerisch mit hypothetisch möglichen Formen der Zukunft auseinanderzusetzen, kann diesen Zweck erfüllen, indem sie Fantasie und Intelligenz freisetzt und die Beteiligten mental an die Startlinie möglicher neuer Entwicklungen bringt.

Die Idee, spielerisch mögliche Zukunftsräume zu explorieren, mag in der heutigen überaus fordernden Geschäftswelt frivol klingen, sie kann aber ein mächtiges Instrument sein, um eine heute dringend benötigte Fähigkeit freizusetzen: kontrafaktisches Denken, sich also von den aktuellen Gegebenheiten – den Fakten – zu lösen und über mögliche Situationen nachzudenken, die zwar nicht der Fall sind, aber sein könnten.

...statt auf der Stelle treten

Denn alles dreht sich heute um die faktische Welt. Im operativen Alltag sind wir darauf eingestellt, uns mit all jenem zu beschäftigen, was für uns am unmittelbarsten ist. Das Nachdenken über neue unternehmerische Möglichkeiten hat in der Regel erst dann Dringlichkeit, wenn die finanzielle Leistungsfähigkeit nachlässt und Unternehmen gezwungen sind, sich an Veränderungen in ihrem Geschäfts-, Technologie- oder Wettbewerbsumfeld anzupassen.

Ohne kontrafaktisches Denken bleiben Unternehmen mental aber an Ort und Stelle stecken. Sie konzentrieren sich auf das Ausschöpfen vorherrschender Angebote oder Geschäftsmodelle, anstatt sich umfassenderen Fragen zu widmen: Welche anderen Produkte und Dienstleistungen könnten wir entwickeln? Wie könnte sich unser Unternehmen transformieren? Welche Szenarien könnten uns aus der Bahn werfen oder neue Chancen bieten?

Ein an der Zukunft orientiertes Denken setzt genau an diesem Punkt an. Indem kontrafaktisches Denken zur Priorität erklärt wird, befähigt es Unternehmen, im Kontext des neuen Unbekannten nicht nur zu forschen, zu lernen und zu verändern, sondern fernab der üblichen organisatorischen Zwänge spielerisch ein Gefühl der Dringlichkeit zu generieren und dem Risiko der Selbstzufriedenheit vorzubeugen. (Michael Shamiyeh, 24.3.2023)