Antonio "Tonio" Schachinger führt in seinem zweiten Roman durch acht Jahre Wiener Elitegymnasium. Einsame Spitze wird sein Romanheld Till aber nur beim Zocken am Computer.

Foto: Anna Breit

Mit seinen Mitschülern, "die sich schon mit zehn so kleiden, wie sie es ihr restliches Leben über tun werden", also die Burschen in grüne Polos und die Mädchen in weiße Jeans, kann Till wenig anfangen. Dementsprechend eigenwillig und auch klein wird das Figurenpersonal rund um ihn in Tonio Schachingers neuem Roman Echtzeitalter bleiben. Der 31-jährige Wiener Autor unternimmt darin den erzählerischen Stunt, seinen Helden auf 360 Seiten durch acht Klassen Gymnasium zu begleiten.

Stunt deshalb, weil das leicht fad werden könnte: Elfjährige, Zwölfjährige, Hefte, Lehrer, Chronologie. Ist es aber nicht! Denn zum einen hat Schachinger als Schauplatz eine Institution gewählt: das Marianum, die "berühmteste Privatschule des Landes". Oder anders gesagt: die Kaderschmiede einer Stadt, über die er schreibt, das "Besondere" an ihr seien "die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade". Zum andern ist Schachinger ein großartiger Erzähler.

Sadistische Lehrer, sachliche Pointen

Einer der Wahnsinnigen ist etwa Tills Klassenvorstand und Deutschlehrer Dolinar. Ein Kärntner, was man ihm anhört, und Anhänger schwarzer Pädagogik. Seine Grundsätze hat er von der Mutter, und die wieder hat sie aus einem Nazibuch. Die Literatur nimmt er sehr ernst, sein Unterricht folgt also dem, was in hehrem Reclam-Gelb erscheint. Mitterer und Innerhofer? "Stehen unter dem größten Druck, ihren Platz im Kanon zu rechtfertigen."

Solch feinnervigen Formulierungen drängen sich auf jeder Seite. Mit Unaufgeregtheit und fast nüchterner Sachlichkeit bringt Schachinger seine Pointen vor den Leser, schaut mit der Distanz und Abgeklärtheit des selbst seit über einem Jahrzehnt der Schulkarriere Entwachsenen auf die Teenager. Daraus folgen Reflexion und analytische Schärfe, trotzdem will es der Autor nie besser wissen als die Figuren. Und weil natürlich das Theresianum Vorbild für das Marianum ist und Schachinger (Mutter: Künstlerin, Vater: Diplomat) dieses, wiewohl in den 2000ern und nicht 2010ern, selbst besucht hat, steckt immenser Detailreichtum in seinen Schilderungen.

Derlei gilt nicht nur für Orte und Gebräuche, sondern auch für die sogenannte, sich dieses Attributs selten als würdig erweisende bessere Gesellschaft. Ja, ein Klassenkamerad hat sogar "eine dieser schmalen, langen Nasen, die reiche Menschen manchmal wie schöne Pferde aussehen lassen". Die Erwachsenenwelt wirft in palaishaften Wohnungen ihre Jus- und BWL-Schatten voraus.

Profi in "Age of Empires"

In der dritten Klasse findet Till einen Freund, in der vierten stirbt sein Vater, in der fünften Klasse ist er einer der weltweit besten Hobby-Gamer des Computerspiels Age of Empires, in der sechsten verliebt er sich in Feli und geht erstmals in Lokale, in der siebten Klasse hat sich mit Feli zwar immer noch nicht mehr ergeben als ein sogleich bereuter Kuss, dafür nimmt Till aber an internationalen Gaming-Turnieren teil. In der achten kommt er endlich mit Feli zusammen, rechtzeitig bevor Corona ausbricht, sodass sie im Lockdown bei ihm einziehen kann.

Schachinger erzählt alle diese Schuljahre durch, erzeugt aber keine leeren Meter oder Redundanzen. Abgesehen davon, dass Till in jedem strauchelt, hat jedes seine Spezifika, die dann auch ganz schnell wieder unwichtig werden. Das erinnert etwas an Richard Linklaters Coming-of-Age-Film Boyhood. Freundschaften sind auch Leidensgemeinschaften. Man wurstelt sich widerwillig und nachlässig durch und erträgt, was man ertragen muss, im Wissen, dass es vorbeigehen wird. Wer die Schulzeit hinter sich hat, für den ist es eine nostalgische Lektüre.

KinoCheck

Karlich-Show und Elmayer

Lehrer, die sich leicht in unsinnige Gespräche verwickeln lassen, und die immer gleichen Ballsportarten, die die Turnlehrer bequem rauchend von der Bank beaufsichtigen – vieles kommt einem bekannt vor. Auch außerschulisch, was daran liegt, dass der Autor dem realen Österreich im beiläufigen Verweisen auf die Tanzschule Elmayer, die Barbara Karlich Show oder das türkis-blaue Regierungs-Aus nach Ibiza so viele kleine Denkmäler setzt, dass man Echtzeitalter in Deutschland mit vor Freude über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen als charmant bejubeln wird und hierzulande fast karikaturhaft finden kann – doch ohne lächerlich zu sein.

Das ist nur eine von vielen verblüffenden Leistungen dieses Buches, das Pointen schleudern und zugleich seine Figuren psychologisch schlüssig reifen lassen kann. Gleich mit seinem Debüt Nicht wie ihr über einen Fußballer hat der Autor, der Sprachkunst an der Angewandten studiert hat, vor vier Jahren die Shortlist für den Deutschen Buchpreis aufgemischt. Wie stilistisch elegant und gewitzt er in Echtzeitalter erneut erzählt und eine ganze Schulzeit, Freunde, die Beziehung zu Eltern, eine Faszination für Computerspiele, jugendliches Rebellieren zusammenbringt und daraus noch Übersichtlichkeit generiert, ist ganz große – Klasse. (Michael Wurmitzer, 21.3.2023)