Video: Dragqueen Candy Licious liest Kinderbücher vor. Zu den Lesungen kommen Kinder und Erwachsene, und die Polizei. DER STANDARD war bei der umstrittenen Veranstaltung dabei.
DER STANDARD

Das Polizeiaufgebot vor der kleinen Buchhandlung ist groß. Vier Kleinbusse mit Beamten parken im sechsten Wiener Bezirk rund um den Veranstaltungsort. In kurzer Zeit soll die Dragqueen Candy Licious hier aus den Kinderbüchern "Schwanenteich" und "Die kehrverte Welt des Filip Fisch" vorlesen. Die Beteiligten sind aufgeregt. Denn die Bezirksvorstehung Mariahilf wollte gemeinsam mit der Gebietsbetreuung "nachbarschaftliche Treffpunkte" im Bezirk vor den Vorhang holen. Als ersten Termin 2023 suchte sich das Team rund um Bezirkschef Markus Rumelhart (SPÖ) eine Dragqueen-Lesung für Kinder aus. Die Kleinsten sollten erleben, dass "die Welt bunt ist und Mariahilf für Diversität und Vielfalt steht", hieß es in der Ankündigung. Die Veranstaltung sorgte allerdings für Furore in der Wiener Stadtpolitik.

Dragqueen Candy Licious braucht rund zwei Stunden, um sich für ihre Kinderbuch-Lesung vorzubereiten.
Foto: Heribert Corn

Denn Drag-Veranstaltungen erleben einen neuen Hype. Ausgehend von den USA haben sich Drag-Lesungen, Drag-Brunches und die sogenannten Drag-Races, bei denen Dragqueens gegeneinander antreten, von einem Nischenprogramm zu einem popkulturellen Phänomen entwickelt. Und um sie ist ein Kulturkampf entbrannt, der allmählich auch nach Österreich schwappt. Auf einer Seite stehen Dragqueens und Unterstützende, das andere Lager führt hierzulande die FPÖ an. Abgeschaut haben sich die Freiheitlichen das von den USA, präziser: Der Wiener FPÖ-Chef Dominik Nepp hat sich bei den Republikanern während seines jüngsten Aufenthalts in Washington, D.C., Anleihen genommen.

Verbote von Drag-Aktionen

Seit Monaten laufen einige Konservative in den Vereinigten Staaten Sturm gegen Drag-Veranstaltungen in Museen und Bibliotheken. Im März hat Tennessee als erster Bundesstaat derartige Shows gesetzlich verboten, zumindest dann, wenn sie auch für Kinder zugänglich sind. 13 weitere Bundesstaaten wollen nachziehen. Bill Lee, Tennessees Gouverneur, beschuldigte Dragqueens der Pornografie. Um Sex geht es bei diesen Veranstaltungen allerdings nicht. Drag meint Performances, bei denen auf oft überzogene Weise ein Geschlecht eingenommen und parodiert wird. Die Debatte um Drag-Shows ist eine weitere Facette eines breiten, gesellschaftlichen Streits über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität.

Dieser beschränkte sich freilich nicht nur auf Amerika. Die ungarische Regierung kündigte erst kürzlich an, ihr umstrittenes Anti-LGBTQI-Gesetz vor dem Europäischen Gerichtshof verteidigen zu wollen. Und der russische Präsident Wladimir Putin spricht seit seinen ersten Tagen im Kreml von "traditionellen Werten" und davon, dass Moskau "niemals das liberale Modell des Westens kopieren solle". Auch in seiner jüngsten Rede, die der Annexion der ukrainischen Territorien gewidmet war, unterstrich Putin einmal mehr, dass er homosexuelles Leben als Inbegriff westlicher Dekadenz versteht.

Der Chef der Wiener FPÖ spricht von "Sexualisierungspropaganda", "Indoktrinierung von Kindern" und "Transgender-Irrsinn". Nepp fordert auch hierzulande "die umgehende Absage dieser Veranstaltung" und hat nun fürs Erste eine Sondersitzung des Wiener Landtags beantragt. Anberaumt ist diese für kommenden Freitag, ihr Ziel: die "Kinderschutz-Maßnahme" nach dem Vorbild Tennessees auch in Wien "rasch durchzusetzen".

Zuletzt erregte eine Drag-Veranstaltung im Juni des Vorjahres mediale Aufmerksamkeit: Inmitten der Vienna Pride, die mit Veranstaltungen die Rechte und Forderungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, transgender, intergeschlechtlichen und queeren Menschen (LGBTQI) in den Fokus rückt. Sie wird von der Stadt Wien mitfinanziert. Kurz vor einer Kinderbuch-Lesung von Candy Licious wurde der Eingang der Bücherei zugemauert, darauf stand "NoPrideMonth".

Von solchen Störaktionen lasse sich sie nicht einschüchtern, sagt Candy Licious. Nachdem die Bücherei zugemauert wurde, habe sie "viel Support" erhalten. Aber: Natürlich gab es auch Gegner, diese versuche sie "nicht an mich ranzulassen". Die Aktion spricht auch Bezirkschef Rumelhart vor der Lesung an: "Die Mauer war schnell wieder abgerissen", sagt er. Und: "Es war ein schöner Vorlesenachmittag."

Angekündigter Protest

Für eine Drag-Veranstaltung im April kündigte die FPÖ Protest an. Candy Licious selbst machte den Freiheitlichen bereits im Vorfeld der Lesung am Montag das Angebot, dieser selbst beizuwohnen. Auf Instagram lud die Dragqueen Nepp und Co ein, "Fragen zu stellen, mit mir in den Dialog zu kommen" und "zu hören, dass ich nichts Böses vorhabe und aus Büchern lesen werde, die ihren Kindern gefallen werden".

Im Vorfeld gab es große Aufregung über Candy Licious' Auftritt: Die FPÖ will Veranstaltungen mit Dragqueens für Kinder untersagen – das Vorbild sind die USA.
Foto: Heribert Corn

Warum Candy Licious eigentlich für Kinder liest? "Warum nicht?", fragt sie zurück. Sie wolle den Kleinen zeigen, dass die Welt bunt sein kann. Das spiegelt sich auch in ihrem Auftritt wider: Für ihre Verwandlung braucht sie rund zwei Stunden. Ihr Make-up, ihre Haare und das Outfit sind in allen Farben des Regenbogens gehalten. "Wie Kinder auf mich reagieren, ist ganz unterschiedlich", sagt sie: "Wenn sie mich fragen, ob das meine echten Haare sind, sage ich: ‚Heute schon.‘ Wenn sie mich fragen, wer oder was ich bin, sage ich: ‚Candy.‘" Das reiche den Kindern. Und am nächsten Tag könne Candy Licious eine andere Person sein. "Ich hätte mir als Kind gewünscht, zu sehen, dass es okay ist, sich bunt und schrill anzuziehen – nicht nur zu Fasching."

Was die Dragqueen den Zuhörern unausgesprochen mitgeben möchte? "Egal, wen du liebst, was du anziehst: Hauptsache, du bist gesund und glücklich." Ihre Botschaft kann Candy Licious an diesem Tag vor allem Erwachsenen überbringen. Die Mehrheit jener, die an diesem Nachmittag in die Buchhandlung gekommen ist, ist schon längst volljährig. Aber auch ein paar Kinder lauschen in der ersten Reihe Candy Licious’ Geschichte – über Filip Fisch, der anders ist als seine Geschwister – weil er keine Flossen, sondern nur Füße hat und traurig ist. Bis ihm jemand sagt, dass das voll okay ist. (Anna Giulia Fink, Oona Kroisleitner, 21.3.2023)