Als Daumenregel für die Alltagsatmung gilt: ein durch die Nase, aus durch die Nase. Mit gezielten Übungen, etwa der Wechselatmung, kann man mehr innere Ruhe und bessere Konzentration bewirken.

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Eigentlich hatte sich Helena (Name von der Redaktion geändert) während ihres Thailand-Aufenthalts vergangenen Herbst nur deshalb für eine "Breathwork"-Session angemeldet, weil sie einen Regentag überbrücken wollte. Yoga klang ihr bei den Temperaturen zu anstrengend. Bei dem Konzept handelt es sich um jahrtausendealte Atempraktiken aus dem asiatischen Raum, die im Westen eben als "Breathwork" vermarktet werden. Manche kennen die Praktik vielleicht vom Eisbaden nach der Wim-Hof-Methode, vom Yoga oder aus der Meditation. Gestresste Manager sollen genauso darauf schwören wie Schauspielerinnen, Extremsportler oder Stars wie Oprah Winfrey.

Warum also nicht einmal ausprobieren? "Ich dachte, das ist 30 Minuten lang meditieren und tief durchatmen", erinnert sich Helena. Stattdessen liegt sie drei Stunden später verkrampft auf der Matte und weint in ein Kissen, während der Instruktor versucht, sie zu beruhigen. "Ich habe in meinem Erwachsenenleben noch nie so intensiv und hilflos geweint", berichtet sie.

Eine prägende Erfahrung, aber längst nicht ungewöhnlich. Vor allem Menschen, die besonders ängstlich und unruhig sind, brechen bei geführten Atemübungen innerhalb kürzester Zeit in Tränen aus, berichtet Max Strom, Yogalehrer und Autor, in seinem Ted-Talk "Breathe to Heal". "Meist weinen sie in den ersten drei bis fünf Minuten, manche schon nach 30 Sekunden. Man kann fast die Uhr danach stellen." Woran liegt das?

Atmung als Spiegel der Gefühlswelt

"Die Atmung geht aufs Zwerchfell, und dort sitzen oft unverarbeitete Emotionen", erklärt Breathwork-Coach Verena Nindl. Das Zwerchfell ist unser Hauptatemmuskel oder, genauer gesagt, eine Muskelsehnenplatte, die sich quer zwischen Lunge und Bauchraum befindet. Bei der Einatmung drückt das Zwerchfell nach unten, beim Ausatmen steigt es nach oben und verkleinert dadurch das Lungenvolumen. Durch besonders intensives Atmen in bestimmten Rhythmen werden die Emotionen, die im Bindegewebe des Zwerchfells schlummern, ins Bewusstsein geholt, so die Annahme – der Atem als Spiegel unserer Gefühle, wenn man so will. Denn während man die Mimik weitestgehend kontrollieren kann, verrät die Atmung schnell, ob man entspannt, überrascht oder ängstlich ist. Wer sich erschreckt, dem stockt der Atem. Wer sich beruhigen möchte, holt erst einmal tief Luft. Ist man erleichtert, atmet man auf.

Dass bewusstes Atmen die Symptome von Angststörungen, trauma- und stressbedingten Störungen und depressiven Erkrankungen verbessern kann, zeigen mittlerweile mehrere Studien. Auch in der evidenzbasierten Medizin angewandte Behandlungsmethoden bei Asthma oder Panikattacken greifen auf Forschungsergebnisse zur Kraft des Atmens zurück. Aktuell laufen Studien zu Breathwork in der Behandlung von Long-Covid-Betroffenen.

Atmen neu lernen

Die angebliche Vielseitigkeit von Breathwork löst bei manchen Skepsis aus. Wenn es für gefühlt alle Beschwerden eine passende Atemtechnik gibt, warum ist die Methode nicht längst viel etablierter? Und vor allem: Warum atmen wir alle falsch?

Die Antwort auf diese Frage ist weit in der Vergangenheit zu finden. Eigentlich war der Mensch einmal ein ziemlich gute Atmer, aber heute holt kein anderes Säugetier so schlecht Luft wie wir. Das liegt daran, dass Menschen irgendwann gelernt haben, Nahrung über dem Feuer zu garen. Fleisch und Pflanzen wurden so weicher und mussten weniger kräftig gekauft werden. Das ließ die Kieferpartie schmaler, den Nasenraum kleiner werden, das wachsende Gehirn drückte immer mehr auf die Nasenhöhlen. Das Ergebnis: Die Menschen atmen heute falsch, so die These des amerikanischen Autors und Journalisten James Nestor in seinem Buch "Breath".

Evolutionär gesehen haben wir also das ideale Atmen verlernt, könnte man sagen. Individuell betrachtet haben wir alle nie atmen gelernt, findet Breathwork-Coach Nindl. Warum auch? Es wird ohnehin über unser autonomes Nervensystem geregelt. Wir machen es also automatisch, täglich etwa 20.000-mal, und wir beherrschen es sogar im Schlaf. Im Gegensatz zu anderen unwillkürlichen Körperfunktionen, etwa die Verdauung, können wir die Atmung auch bewusst steuern und manipulieren. Die Kraft der Atmung sei so stark, dass manche Ärztinnen und Ärzte sogar davor warnen, sie ohne Anleitung zu manipulieren.

Ein durch die Nase, aus durch die Nase

Mit jedem Atemzug strömt etwa ein halber Liter Luft in Lunge und Bronchien. Von dort wird der Sauerstoff ins Blut geleitet und so in den gesamten Körper bis in jedes noch so kleine Gefäß transportiert. Im Gewebe wird der Sauerstoff wieder abgegeben und dort zusammen mit Glukose zur Energiegewinnung genutzt. Dabei entsteht Kohlendioxid, das wieder abtransportiert wird. In Zahlen bedeutet das: Luft, die wir einatmen, besteht zu 21 Prozent aus Sauerstoff und zu 0,04 Prozent Kohlendioxid. Beim Ausatmen enthält sie nur noch 16 Prozent Sauerstoff, aber vier Prozent Kohlendioxid. Das Atemzentrum im Stammhirn steuert diesen Prozess und passt ihn entsprechend an. Bei Anstrengung brauchen wir mehr Sauerstoff, im Schlaf weniger – ein fein ausgeklügeltes System, das eigentlich einwandfrei funktioniert.

Nicht ganz, findet Nindl. Die meisten Menschen haben einen falschen Rhythmus und atmen zu flach, sagt sie. Für die Alltagsatmung lautet die wichtigste Regel: ein durch die Nase, aus durch die Nase. "Die Nase erwärmt und befeuchtet die Luft. Der Mund sollte im Alltag nur eine Back-up-Option sein, etwa während der Schnupfenzeit", erklärt die Expertin. In einem weiteren Schritt gehe es bei Breathwork darum, die Atmung langfristig zu verbessern, das heißt, "vertiefen, verlangsamen und in einen Rhythmus kommen, das sind die drei Elemente einer guten Atmung", erklärt Nindl. Das habe langfristig zahlreiche gesundheitsfördernde Effekte: ein gestärktes Immunsystem, gesunder Blutdruck, Seelenfrieden und mehr.

"Die Medizin hat fantastische Antworten für alles, was akut ist, aber sehr wenige Antworten für langfristige Beschwerden", sagt Nindl. Genau in diesem Bereich könne man mit Atemtechniken viel bewirken, und sie spricht dabei aus persönlicher Erfahrung. Als Nindl vor Jahren Stresssymptome und eine Autoimmunerkrankung entwickelte, hat sie nach Möglichkeiten gesucht, um ihr Nervensystem zu regulieren, und ist so auf Atemarbeit gestoßen. "Im Prinzip ist Breathwork eine aktive Art der Meditation", sagt sie. Dass Breathwork, gezielt eingesetzt, tatsächlich auch bei Autoimmunerkrankungen helfen kann, deuten auch erste Studien an.

Unterschiedliche Formen von Atemarbeit

Wie die beste Atemtechnik aussieht? Da gibt es viele Ansätze. Sie alle eint der gleichmäßige Rhythmus. Wie schnell dieser gleichmäßige Rhythmus ist, variiert aber je nach Atemtechnik – je nachdem, was das Ziel sein soll. Besser einschlafen oder wacher und aufmerksamer werden? Entspannung oder Aktivierung? Beides kann mit entsprechenden Übungen gelingen.

Wie genau unterschiedliche Atemrhythmen auf das Nervensystem wirken und was dabei im Gehirn passiert, ist nicht im Detail geklärt. Was man weiß: Die Einatmung stimuliert den Sympathikus, der die Leistungsbereitschaft erhöht, Puls und Blutdruck steigert. Die Ausatmung wiederum stimuliert den Parasympathikus, der für Ruhe und Entspannung sorgt. "Wollen wir entspannen, müssen wir den Parasympathikus ansprechen, das heißt, kürzer einatmen, länger ausatmen", erklärt Nindl. Das Ergebnis: Das Herz schlägt langsamer, der Blutdruck sinkt, wie zahlreiche Studienergebnisse zeigen. Umgekehrt funktioniert es genauso, wenn die Einatmung in den Fokus genommen wird. Das stärkt Konzentration und Aufmerksamkeit, auch bei ADHS-Betroffenen, wie eine wissenschaftliche Arbeit zeigt.

Mit sogenannten Schnellatmungen, also in raschem Tempo Luft einsaugen und auspusten, seien laut Nindl außerdem "extrem emotionale Releases" möglich – so wie das bei Helenas Breathwork-Session in Thailand passiert zu sein scheint: "Wir haben ohne Unterbrechung ein- und ausgeatmet. Es fühlte sich an wie bewusstes hyperventilieren", beschreibt sie. Dabei sei eine unbewusste Trauer aufgestiegen, ihr Körper hat sich immer mehr verkrampft: "Ich weiß nicht, was genau, aber irgendwas hat mich so, so traurig gemacht." Physiologisch lassen sich die Krämpfe erklären. Durch Hyperventilation atmet man verstärkt Kohlendioxid aus, dadurch steigt der pH-Wert des Blutes. Es wird basisch, das verändert die Blutbestandteile wie etwa Kalzium, das wichtig für die Muskeln ist. In der Folge kann es zu einer Muskelstarre, einem Krampf kommen.

Mehr Forschung notwendig

Dass die Art und Weise, wie wir atmen, Auswirkungen auf unseren Körper und Geist hat, ist unbestritten. Einige der Vorteile, die Atemarbeit zugeschrieben werden, sind auch bereits wissenschaftlich erwiesen und erklärt – oder es gibt zumindest Anhaltspunkte. Vor allem in Holland findet man – wohl durch die Popularität von Extremsportler und Eisbad-Koryphäe Wim Hof – zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zu Breathwork und und Auswirkungen der Technik. "Aber es gibt noch großen Aufholbedarf in der Forschung", sagt Nindl und betont, wie individuell man an Atemarbeit herangehen sollte. Ein und dieselbe Atemübung funktioniert nicht für alle gleich gut.

Das hat auch Helena in Thailand gemerkt. Am Ende der Session haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von ihrer Erfahrung berichtet. Vielen ging es ähnlich wie Helena, bei anderen ist dagegen gar nichts passiert. (Magdalena Pötsch, 2.4.2023)