Die Krim kehrt heim ins Totenreich: Bild zum Referendum, abgehalten 2014.

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Ein riesiges, bis an die Zähne bewaffnetes Reich wie die Russische Föderation lässt sich schwerlich auf die Couch legen. Dabei herrscht seit Beginn von Putins Überfall auf die Ukraine an Erklärungen dafür, wie es zu einem derart beispiellosen Akt kriegerischer Aggression kommen konnte, kein Mangel.

Die Begründungen oszillieren eigentümlich. Sie reichen von Psychogrammen des Kreml-Herrschers bis zur Akutdiagnose: Zivilisationsbankrott. An die Stelle der Kreml-Astrologen aus alten Sowjettagen sind Ideologiekritikerinnen getreten, Ideenforscherinnen wie Elena Kostioukovitch. Ihr Tenor: Wladimir Putin verwaltet das totenkulturelle Erbe einer rückwärtsgerichteten, auf Trotz und Wahnvorstellungen gegründeten Staatsidee.

Die eindrucksvolle Verknüpfung solcher Erzählstränge leistet jetzt der deutsche Soziologe Arno Bammé (78). Er hat seinen aktuellen Großessay mit Die russische Hysterie überschrieben. Noch aufschlussreicher der Untertitel: "Wladimir W. Putin als Symptom". Bammé, der lange in Klagenfurt gelehrt hat, ist ein Spezialist für den Gemeinschaftsforscher Ferdinand Tönnies (1855–1936). Er nennt Putins nachbarschaftlichen Gewaltexzess einen "prophylaktischen Vernichtungskrieg" – wie er auch sonst der russischen Gesellschaft ein eher bedenkliches Zeugnis ausstellt.

Der pathologische Kulturhass auf den Westen, überhaupt auf alle nichtslawischen Völker, erfordere, so Bammé, die Anstrengung einer "mentalhistorischen" Rekonstruktion. In ihrem Zentrum steht die russische Seele. Seinen gleichsam organischen Vorläufer finde das "System Putin" im Herrschaftsmodus der Zaren. Hinzu kommen die Gewaltexzesse des Bolschewismus, allen voran die massenmörderischen von "Väterchen" Stalin.

Die überschnappende Gewaltlust des Kreml-Herrn nennt Bammé "hysterisch" motiviert. Er versteht darunter das überschießende Verhalten einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, die unter akutem Stress steht. Ein Staat wie der russische habe sich komplett von der Realität gelöst. Anstatt auf Probleme angemessen zu reagieren, laboriere Putins Russland an Minderwertigkeitskomplexen.

Gehabe des Papiertigers

Prompt werde zu jeder unpassenden Gelegenheit die eigene Allmacht beschworen: das Imponiergehabe eines Papiertigers. Bald wimmle die Welt nur noch von Schreckgespenstern. Logische Erklärungen prallen am geschlossenen Weltbild des "Russkij Mir" (russisches Universum) wirkungslos ab, sie verpuffen. Bammé spricht von der Deformierung des Charakters einer Gesellschaft. Sie reicht von der als krisenhaft erlebten Ausweglosigkeit ("Sackgassenlage") weiter zur erstbesten Scheinlösung. Von dort führt die Entwicklung in die endgültige Katastrophe.

Putins traumatische Urszene bestand, wie er selbst oftmals ausführte, in der Auflösung der Sowjetunion. Von hier aus weist der Entwicklungspfeil schnurstracks herauf in eine Gegenwart, die von seinesgleichen als ungenügend erlebt wird, als schmählich und voller Ungewissheit. Anstatt die Gewalterfahrungen der Jahrzehnte von 1917 bis heute zu bearbeiten, dominiert im Moskauer Regierungszentrum die Logik des Wahns. Putin selbst sitzt in der "Echokammer" seiner Speichellecker und Informanten freiwillig gefangen. Als Typus sei er ein Wiedergänger, der "verdiente" Funktionär auf Lebenszeit und darüber hinaus. Wie ein Anhängsel bleibt Wladimir Putin an das eigene Trauma gekettet.

Ewiger Dualismus

Um mit dem westlichen Liberalismus in Wettbewerb treten zu können, beschwören er und Schwarmköpfe wie der Philosoph Alexander Dugin einen ewigen Dualismus herauf. In der Doktrin des "Russkij Mir" verschmilzt das Konzept eines grenzenlosen Russland mit der Idee des "Eurasismus".

Die "Wiedergeburt des mächtigen Vaterlandes" heischt die ewige Neuverlegung der Landesgrenzen. An Russland bindet sich jeder, der sich mit ihm spirituell identifiziert. Umgekehrt entspricht der geistig-moralisch gesunde "Eurasismus" der erdnahen Landmacht Russland. Ihr gegenüber steht der wässerig-dekadente "Atlantismus" der USA und Konsorten.

Das Fazit einer solchen Hysterie-Hypothese stimmt wenig zukunftsfroh. Mit solchen wie uns möchte Putin als Retro-Erneuerer eher keine sichere Weltordnung schaffen. Wahrscheinlich möchte er mit dem Westen nicht einmal ernsthaft Frieden schließen. (Ronald Pohl, 22.3.2023)