Skitouren abseits der Pisten gehören zu den schönsten Wintererlebnissen in den Bergen. Trotz guter Lawinenkenntnisse kann ein Restrisiko aber nie ausgeschlossen werden.
Alpenverein/Freudenthaler

Eine Gruppe von Freunden unternahm vor wenigen Jahren in der italienischen Provinz Sondrio eine Skitour. Keiner der Teilnehmer war ein ausgewiesener Profi. Einer, der über etwas Erfahrung verfügte, legte die Aufstiegsspur an und wählte die Route zurück ins Tal. Bei der Abfahrt geschah die Katastrophe: Eine Lawine löste sich. Einer der Freunde wurde verschüttet und starb noch am Berg. Wer trägt in dieser Situation nun die Verantwortung? Ist es jener Tourengeher, der die Rolle des "Führers aus Gefälligkeit" eingenommen hat, wie es in der Rechtssprache heißt? Oder trägt der Verunglückte selbst die Schuld? Inwiefern war eine Form von unkalkulierbarer höherer Gewalt im Spiel?

Gerichte haben Fragen dieser Art immer wieder zu klären. Skitouren abseits der Pisten wurden in den vergangenen Jahrzehnten zum Breitensport. Vielen Freizeitsportlerinnen und -sportlern fehlt aber ein entsprechendes Risikobewusstsein, und sie überschätzen ihre Fähigkeiten. Extreme Wetterereignisse, fluktuierende Niederschlagsmuster, ein Rückgang der Gletscher und andere durch die Klimakatastrophe begünstigte Phänomene machen eine in vielen Situationen ohnehin unberechenbare Bergnatur noch gefährlicher, im Sommer wie im Winter. Beide Faktoren – Natur und Mensch – sorgen für Unsicherheit.

Komplexe Haftungsfragen

Im Projekt "Naturgefahr Berg: Risikomanagement und Verantwortung" haben sich Forschende aus verschiedenen Fachdisziplinen länderübergreifend in Österreich und Italien mit diesem Themenkreis auseinandergesetzt. Rechtsexpertinnen und -experten der Universitäten Innsbruck, Bozen und Trient arbeiteten dabei gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Geologie und der Lawinenkunde zusammen. Expertise kam zudem von den alpinen Vereinen. Das Ziel: Man möchte eine "Annäherung von Natur und Recht" bewerkstelligen.

"Einerseits wollen wir mehr Bewusstsein für das Risiko am Berg schaffen und zu einer besseren Risikokultur beitragen", erklärt Projektleiterin Margareth Helfer vom Institut für Italienisches Recht der Uni Innsbruck. "Andererseits wollen wir die rechtliche Betrachtung weiterentwickeln und neue Zugänge zu komplexen Haftungsfragen bei Bergunfällen schaffen." Eigen- und Fremdverschulden sowie das immer verbleibende Restrisiko sollen auf Basis eines aktuellen wissenschaftlichen Stands auseinanderdividiert werden.

Gesetz soll vor eigener Unvorsichtigkeit schützen

Gerade die italienische Rechtslage gibt in Bezug auf Lawinenunfälle immer wieder Anlass zu Diskussionen. Das entsprechende Gesetz aus dem Jahr 1930 stellt das Verursachen von Überschwemmungen oder Erdrutschen mit dem Auslösen von Lawinen gleich. Eine Haftstrafe von fünf bis zwölf Jahren ist angedroht. 2005 sorgte ein Urteil in letzter Instanz für Aufregung, das eine Bewährungsstrafe für einen Südtiroler Skitourengeher bestätigte. Er hatte eine Lawine ausgelöst, bei der niemand zu Schaden kam. Südlich des Brenners sprach man von einem Imageverlust durch das Urteil, das die restriktive Rechtslage in den italienischen Alpen etwa auch unter den Skitourenfans Österreichs bekanntmachte.

"Das italienische Strafrecht nimmt eine paternalistische Haltung dem Einzelnen gegenüber ein. Es hat den Anspruch, Bürgerinnen und Bürger vor jeder Gefahr zu schützen, auch vor der eigenen Unvorsichtigkeit", erklärt Helfer. "In Österreich, Deutschland und der Schweiz ist die Eigenverantwortung dagegen schon recht gut als Rechtsprinzip etabliert. In der Betrachtung alpiner Unfälle wird ihr ein viel höherer Stellenwert eingeräumt." Man könnte sagen, dass in den Bergen an der österreichisch-italienischen Grenze auch zwei Rechtsauffassungen aufeinanderprallen – mit Kollateralschäden für den sportlichen Grenzverkehr. Umso aufsehenerregender war schließlich das Urteil rund um die Bergtour der Freundesgruppe in Sondrio. Hier wurde jener Teilnehmer, der die Führung übernommen hatte, wegen des fahrlässigen Auslösens der tödlichen Lawine angeklagt. Der Fall endete überraschend mit einem Freispruch.

Realitätsnahe Urteile

"Das Gericht argumentierte, dass der Wissensstand der Freunde im Grunde ähnlich war und dass das spätere Opfer durchaus auch in der Lage gewesen wäre, sich für eine andere Route zu entscheiden", fasst Helfer zusammen. "Das Urteil war für italienische Verhältnisse ein Novum und ein Hinweis darauf, dass das Prinzip der Eigenverantwortung hier ebenfalls langsam eine Aufwertung erfährt."Das Urteil wurde auch zu einem der Ausgangspunkte für das Projekt, das die Rolle der Eigenverantwortung im strafrechtlichen Bereich auch unter Einbindung von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und -anwälten diskutieren und popularisieren sollte – auch im weit entfernten Rom.

"Man sieht, dass erstinstanzliche Richter in Südtirol oder Trient, die näher am Ort des alpinen Geschehens sind, die Fälle realitätsnäher beurteilen. Sie können durchaus einschätzen, ob ein schuldhaftes Handeln vorliegt. Daher werden Lawinenauslösungen vereinzelt auch gar nicht verfolgt", sagt Helfer. "Erst in Verhandlungen in zweiter oder dritter Instanz – weit weg vom Ort des Geschehens – kommt es eher zu Schuldsprüchen."

Eigenverantwortung

Das Setzen auf Eigenverantwortung braucht gleichzeitig aber auch informierte Bürgerinnen und Bürger, die um die Berggefahren wissen, alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen treffen und sich keinem unkalkulierten Risiko aussetzen. Die Zahl der jährlichen Lawinentoten und die Zunahme an alpinen Rettungseinsätzen zeigt, dass vielen Bergtouristinnen und -touristen das einschlägige Wissen offenbar fehlt – auch im überwiegend alpinen Österreich. Helfer und ihr Team arbeiteten im Projekt etwa mit Schulen und Bergsportvereinen an Aufklärungskampagnen. "Eine unserer Umfragen hat gezeigt, dass jüngere Bergsporttreibende bereits jetzt ein vergleichsweise besseres Risikobewusstsein haben als ältere", schürt Helfer Hoffnung.

Künftig möchten die Forschenden auch verstärkt mit der Tourismuswirtschaft zusammenarbeiten, um Urlaubsgäste besser auf die Berge vorzubereiten. Die Natur weitgehend uneingeschränkt genießen zu können, ist auch in Österreich ein wichtiges und geschätztes Gut. Es beinhaltet aber die Pflicht zum informierten, eigenverantwortlichen und risikobewussten Handeln in den Bergen. (Alois Pumhösel, 23.3.2023)