Ein Drachenfliegen-Festival in Bagdad findet regen Zuspruch von jungen Leuten. Im Irak existieren viele gesellschaftliche Realitäten nebeneinander: Es gibt Rapper-Konzerte und ultrakonservative Religiöse.

Foto: AP / Hadi Mizban

Am Tag, an dem sich im Irak der Beginn der US-geführten Invasion zum Sturz Saddam Husseins zum 20. Mal jährte, empfing Bagdad einen Gast aus Teheran: Sicherheitsberater Ali Shamkhani setzte gemeinsam mit seinem irakischen Kollegen Qassim al-Araji seine Unterschrift unter ein gemeinsames Sicherheitsabkommen. So etwas gehört zur politischen Realität im Irak: Die Regierung von Mohammed Shia al-Sudani wird, auch wenn sie zu den restlichen US-Militärs im Irak nicht auf Konfrontationskurs geht, von proiranischen schiitischen Kräften dominiert.

VIDEO: Vor 20 Jahren marschierten US-Truppen wegen angeblich vorhandener Massenvernichtungswaffen in den Irak ein. Offizielles Ziel war es, Demokratie ins Land zu bringen. Davon ist das Land nach Meinung vieler Bewohner heute weit entfernt.
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Das Sicherheitsabkommen betrifft die Zusammenarbeit an der durch kurdische Gebiete laufenden irakisch-iranischen Grenze – und damit vor allem iranische Kurden, die sich im Konflikt mit Teheran auf die irakische Seite zurückgezogen haben. Erst am Freitag war im Iran wieder ein Mitglied der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP-I) hingerichtet worden. Das iranische Regime führt im Rahmen der allgemeinen Repression der im September ausgebrochenen feministischen Proteste einen besonderen Feldzug gegen die kurdische Minderheit, die es des Separatismus beschuldigt.

Das ist relativ weit weg von Bagdad, wo das Leben weitergeht: Die USA hätten vor zwanzig Jahren den irakischen Staat zum Einsturz gebracht, und die korrupte Politikerklasse habe nichts dazu getan, ihn wiederaufzubauen, sagen viele. Premier Sudani ist erst seit Ende Oktober 2022 im Amt. Ein Jahr hatte die Regierungsbildung nach den Wahlen 2021 gedauert und wurde nur dadurch möglich, dass der Wahlsieger Muktada al-Sadr seine Abgeordneten aus dem Parlament zurückzog.

Lieber Rap als Mullahs

Obwohl sich Sadr als irakischer Nationalist gebärdet – und damit gegen die iranische Dominanz der irakischen Politik ist –, trauern ihm jene jungen, weltoffenen Iraker und Irakerinnen, die zu Rapperkonzerten und anderen zeitgenössischen Vergnügungen strömen, nicht nach. Aber der Mullah entfaltet seinen konservativen gesellschaftlichen Einfluss trotzdem weiter. Vor allem für junge, sozial schwache Schiiten und Schiitinnen ist er noch immer eine Referenzfigur.

In der Region kann man oft hören, dass der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, der 2006 zum Bürgerkrieg führte, nur ein Konstrukt, wenn nicht gar eine bewusste Erfindung der Amerikaner war: So sollte der Irak zerstört und die islamische Welt im Allgemeinen geschwächt werden. Die Gefühle sind aber durchaus real, wie sich gerade wieder bei einer der schon üblichen Streitereien vor dem Ramadan zeigt: welche Soap-Operas man sich beim Warten auf den Sonnenuntergang hineinziehen soll.

Diesmal geht es um die angeblich bisher teuerste arabische TV-Produktion, produziert von der saudischen MBC-Gruppe. History-Schinken werden zunehmend beliebt, dieser betrifft das Leben des ersten umayyadischen Kalifen Muawiya (603–680) und damit die Eskalation der sunnitisch-schiitischen Spaltung, die sich nach dem Tod des Propheten Mohammed über dessen Nachfolge entwickelt hatte.

Um es kurz zu machen: Muawiya und sein Sohn Yazid sind sozusagen die sunnitischen Helden der Geschichte – auf Kosten des Schwiegersohns des Propheten, Ali, der als erster schiitischer Imam gilt, und dessen Sohn Hussein. Und Muktada al-Sadr hat – erfolgreich – dagegen mobilisiert, dass MBC Iraq die Serie ausstrahlt. Jene, die sie trotzdem sehen wollen, werden Wege finden.

Wenn es um Machtpolitik geht, gibt es jedoch durchaus auch Konsens entlang anderer Linien: zwischen politischer Elite und Opposition. Bei den Wahlen 2021 hatten unabhängige Kandidaten und Vertreter der jungen Protestbewegung von 2019 von Änderungen des Wahlrechts, konkret einer neuen Aufteilung der Wahlbezirke, profitiert: Ihr Erfolg brachte ihnen zwar keinen Einfluss auf die Regierung, aber sie sitzen zumindest im Parlament. Nun heben die großen Parteien an, eine neuerliche Wahlrechtsreform zu verabschieden, die wieder die etablierten Parteien – also sie selbst – bevorteilen wird.

Junge gegen Klientelpolitik

Die Protestbewegung von 2019 hatte zum Sturz der damaligen Regierung geführt: Die jungen Leute gingen damals gegen die verkrustete irakische Klientelpolitik auf die Straße, bei der die religiös oder ethnisch definierten Gruppen immer nur ihre eigenen Anhänger versorgen. Insofern war die irakische Bewegung jener im Libanon, wo der religiös-ethnische Proporz ja sogar Verfassung ist, nicht unähnlich. Die Jungen sind frustriert, dass die politischen Machtstrukturen durch Wahlen immer wieder bestätigt und nie aufgebrochen werden.

Im Irak war die Reaktion des Staates auf die Protestwelle überaus gewalttätig, hunderte junge Menschen wurden getötet oder verschleppt. Der Ausbruch von Corona 2020 beendete die Demonstrationen mehr oder weniger.

Die Mehrheit im irakischen Parlament, 275 von 329 Abgeordneten, besteht aus der erst vorigen Herbst gebildeten "Staatsverwaltungsallianz": Ihr gehören die Iran-loyalen Schiitenmilizenvertreter vom Schiitischen Koordinationsrahmen, die Kurdenparteien KDP und PUK – die in Kurdistan selbst wild zerstritten sind – und sunnitische Parteien an. Amwaj.media meldet, dass die höchste schiitische religiöse Autorität in Najaf, der fast 93-jährige Großayatollah Ali Sistani, genauso wie die Sadristen die bevorstehende Wahlrechtsreform kritisiert. Es wird aber wohl nichts nützen. (Gudrun Harrer, 22.3.2023)