Der Lustenauer ÖVP-Bürgermeister Kurt Fischer schreibt in seinem Gastkommentar darüber, was das schwarz-blaue Koalitionsabkommen für die gesamte Partei bedeutet.

In einem Kommentar über die schwarz-blaue Koalition in Niederösterreich stand Folgendes zu lesen: "2023 ist jenes Jahr, in dem sich Niederösterreich von den Werten der Aufklärung verabschiedet hat und selbst alternative Fakten schafft." Sollte diese Kritik der Vorarlberger Nachrichten im Wesentlichen zutreffen, dann stünde nach der Wahl mehr auf dem Spiel als vor der Wahl, ja es ginge tatsächlich um alles. Und die wiederholte Berufung im niederösterreichischen Arbeitsübereinkommen auf den zentralen Aufklärungsbegriff "Vernunft" könnte sich als gegenaufklärerischer Zynismus, als Wissenschafts- und Faktenfeindlichkeit im vernünftelnden Tarnanzug herausstellen.

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Aber auch wenn aktuell viel vom größten Bundesland die Rede ist und von der traditionell einflussreichsten Landesgruppe der ÖVP, die bahnbrechende und möglicherweise "dammbrechende" Entscheidung zur Regierungszusammenarbeit mit der dortigen FPÖ ist nur ein weiterer Anlass zur Frage, wohin es die konservative Volkspartei zieht oder treibt. Sie ist – nicht erst seit Kurz(em) – in einer Sinnkrise. Versteht man "Sinn" als Richtung wie "Uhrzeigersinn" und "Krise" als Phase der Entscheidung oder Wende, dann stellt sich eine für die liberale Demokratie insgesamt bedeutende Frage: Quo vadis, Volkspartei?

"Es braucht auch die Kraft, ein positives Zukunftsbild zu entwickeln, um den Menschen begründete Hoffnung zu machen."

In seinem demnächst erscheinenden Buch Mitte/Rechts Die internationale Krise des Konservatismus warnt der deutsche Politikwissenschafter Thomas Biebricher vor den Folgen einer Erosion der konservativen Mitte. Eine zentrale These seiner hochaktuellen Ausführungen lautet, dass das Dilemma des Konservatismus eine wichtige Rolle in der Krise der liberalen Demokratie spielt und daher das Schicksal des Konservatismus alle angeht, "denen die Verteidigung der liberalen Demokratie und ihrer Potenziale am Herzen liegt".

Ganz ähnlich argumentiert übrigens Jan-Werner Müller, Politikprofessor an der Princeton University. In seinen Überlegungen zur Sinnkrise der CDU zeigt er auf, warum es gefährlich ist, wenn es einer konservativen Volkspartei schlechtgeht: "Wenn ,Passt scho‘-Konservative keine eigenen Prinzipien – und damit auch im Zweifelsfall keine Grenzen – mehr kennen, profitieren die Rechtspopulisten." Und Müller warnt eindringlich vor dem Versuch, den Rechtspopulismus mit einer Containment-Strategie, durch die Einbindung als Juniorpartner in einer Koalition, zu zähmen oder vielleicht sogar vorzuführen. Als Beispiel des Scheiterns, nach kurzfristigen Zwischenerfolgen, nennt er Wolfgang Schüssels Rezept "Destruktion durch Inklusion". Mit Sebastian Kurz wurde Österreich dann "zum Labor für eine leicht andere, diesmal scheinbar todsichere Strategie: ,Elimination durch Imitation‘".

Kurzfristig erfolgreich

Der Versuch, sagt Müller, war auch kurzfristig erfolgreich: "Nur: Egal wie schnell man den Rechtspopulisten hinterherläuft, einholen wird man sie nie. Sie werden ihre Forderungen stets verschärfen – und hämisch anmerken, dass man doch bitte nicht für die Kopie optieren solle, wenn auch das Original auf dem Wahlzettel stehe."

Will man nicht eines Tages nach einer Serie von gescheiterten Containment-Versuchen selbst als Juniorpartner von Rechtspopulisten böse erwachen, sollte die ÖVP Müllers Rat befolgen: "Innerhalb einer pluralistischen Demokratie deutliche Konturen zeigen und sich gleichzeitig ganz klar vom Populismus abgrenzen." Dazu braucht es Mut, auch den Mut, seine ursprünglichen Ideale zu verteidigen, die christlich-sozialen Werte und auch die Utopie eines vereinten Europa. Es braucht auch die Kraft, ein positives Zukunftsbild zu entwickeln, um den Menschenbegründete Hoffnung zu machen, mit deren Abstiegs- und Verlustängsten die Populisten Stimmung und Stimmen machen, ohne wirklich Lösungen anzubieten.

Zukunftsverlust und fehlende Hoffnung sind ein Nährboden für apokalyptische Angstmache, Verschwörungstheorien. "Falsche Propheten" sind eine große Gefahr für die liberale Demokratie. Statt mit Rechtspopulisten zu koalieren oder sie gar mit einem "radikalisierten Konservatismus" zu imitieren, müsste eine Politik der konservativen Mitte für eine Koalition der Hoffnung eintreten, eine soziale Partnerschaft für die Zukunft. Die beachtliche Basis vieler Bürgermeisterinnen und Bürgermeister würde sich hier sicher gerne einbringen, über Parteigrenzen hinweg.

"Vielleicht geht die ÖVP richtungsweisend auf die Bevölkerung wie auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu."

In der drohenden Ver-Wüstung unserer Demokratie muss Politik den Glauben der Menschen an eine gemeinsame Zukunft stärken. Diesem Ziel sollte vieles untergeordnet werden, auch das traditionelle Bedienen des Boulevards, der den Menschen eher das Fürchten lehrt als das Hoffen. Liberale Demokratie ist ein aufklärerischer Prozess, in einer Dialektik von konservativen und progressiven Kräften. Eine Koalition der Hoffnung müsste sich gegenaufklärerischen, demokratiefeindlichen Kräften entschieden entgegensetzen und gezielt in Bildung, in Dialogfähigkeit investieren und in eine Medienlandschaft, die unsere liberale Demokratie stärkt und vor einer schleichenden Orbánisierung schützt.

Freilich, eine solche Partnerschaft für die Zukunft scheint in weiter Ferne. Auch links von der Mitte erodiert der einst feste Boden, auch das schwächt die liberale Demokratie und stärkt populistische, illiberale Kräfte. Ein erster wichtiger Schritt für alle konstruktiven Kräfte wäre die Stärkung der Bedeutung der kommunalen und regionalen Politik – Menschen erleben sie unmittelbar, vertrauen ihren Institutionen und können ihre Zukunft aktiv mitgestalten. Vielleicht geht die ÖVP richtungsweisend auf die Bevölkerung wie auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister zu. Sie warten in der Mitte. (Kurt Fischer, 22.3.2023)