"Im Gegensatz zu dem Bergdoktor im Fernsehen ging's bei mir nicht den ganzen Tag um meine Liebesgeschichten", sagt Elmar Lingg.

Foto: Stefan Klauser

Noch bis vor ein paar Monaten arbeitete im Vorarlberger Kleinwalsertal nicht nur ein Allgemeinmediziner, sondern auch ein Notarzt, ein Palliativversorger, ein Berg- und Flugretter und ein Suchthelfer. Jetzt sind sie alle weg. Denn Elmar Lingg ist in Pension gegangen. In seiner Ordination in Mittelberg brennt kein Licht mehr, die Suche nach Nachfolgern ist schwierig.

Mit Pomp und Gloria wurde im vergangenen Herbst der Bergdoktor des idyllischen Tals in den Ruhestand verabschiedet. Das ganze Dorf marschierte am letzten Arbeitstag zu seinen Ehren auf – gemeinsam mit allen Blaulichtorganisationen und allen drei Musikkapellen. Denn Lingg hat die drei Ortschaften im Kleinwalsertal 37 Jahre lang nicht nur medizinisch versorgt. Er war auch Vermittler bei Konflikten und Ansprechpartner bei persönlichen Problemen, wann immer einer der rund 5.000 Einwohnerinnen und Einwohner Unglück ereilte. "Meine medizinische Ideologie war immer: Probleme lösen. Egal welche", sagt der 65-Jährige pragmatisch.

VIDEO: Auch in Niederösterreich herrscht Ärztemangel. Das STANDARD-Videoteam war im Jänner vor Ort.
DER STANDARD

Zwei offene Planstellen

Für die Menschen im Tal ist seine Pensionierung eine kleine Katastrophe. Von den vorgesehenen vier Planstellen für Allgemeinmedizin sind derzeit nur zwei besetzt – bei rund 5.000 Einwohnerinnen und Einwohnern und monatlich fast 23.000 Touristinnen und Touristen ist das zu wenig.

In das Kleinwalsertal gelangt man nur über Deutschland, denn die Berge trennen das Tal vom Rest Österreichs.
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Ergattert man im Ort keinen Termin, ist die nächste Praxis nun rund 20 Minuten mit dem Auto und eine Grenzüberfahrt nach Deutschland entfernt: Durch ein spezielles Abkommen mit dem benachbarten Allgäu ist es den Kleinwalsertalerinnen und Kleinwalsertalern vorübergehend möglich, auch Allgemeinmediziner im deutschen Oberstdorf aufzusuchen.

Die Bemühungen für eine Nachbesetzung laufen auf Hochtouren. Seit Jahren beschäftige sich die Gemeinde intensiv mit der Frage der Ärztenachfolge, sagt Lingg. Denn der Engpass sei abzusehen gewesen: "30 Jahre lang waren wir hier vier Allgemeinmediziner, fast alle im selben Alter. Jetzt haben wir ein Problem." Denn Lingg – der, wie er sagt, "Letzte der alten Viererriege" – und seine drei Kollegen gingen beinahe gleichzeitig in Pension. Seither konnten zwei Stellen nachbesetzt werden, auf zwei weitere Nachfolgerinnen oder Nachfolger hofft man noch. Anzeigen wurden geschaltet und Aufrufe gestartet – bisher mit wenig Erfolg.

Sonderfall Kleinwalsertal

Wie auch in vielen anderen ländlichen Regionen in Österreich sind ausgeschriebene Stellen im Kleinwalsertal für junge Ärztinnen und Ärzte nicht sonderlich attraktiv. Es hätte sich zwar in den letzten Jahren eine Handvoll Interessierte gemeldet – 15 um genau zu sein –, allerdings konnten die meisten von ihnen nicht die erforderliche Ausbildung Allgemeinmedizin vorweisen, sagt Lingg.

Rund 23.000 Touristinnen und Touristen verzeichnet der beliebte Ferienort monatlich.
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Im Vergleich zu anderen Bundesländern hat Vorarlberg die niedrigste Dichte an Allgemeinmedizinern. "Der Ärztemangel ist natürlich kein alleiniges Problem unseres Tals, in ganz Vorarlberg ist das Thema ", sagt der Mediziner. Doch die eigenwillige geografische Lage des Kleinwalsertals würde zusätzlich viele abschrecken, vor allem Bewerberinnen und Bewerber aus Österreich – tatsächlich stammte bisher keine der 15 Anfragen aus Österreich. Denn die Berge trennen das Tal vom Rest des Landes, per Straße ist es nur von Deutschland aus zu erreichen, und zum restlichen Vorarlberg gibt es keine direkte Verkehrsverbindung. Nicht selten spricht man daher vom Kleinwalsertal als "berühmteste Sackgasse Österreichs".

Eine Sackgasse, deren Bewohnerinnen und Bewohner im täglichen Leben weitgehend vom deutschen Nachbarn abhängig sind: Einkäufe, die über die örtlichen Supermärkte und Ab-Hof-Läden hinausgehen, besorgt man im benachbarten deutschen Oberstdorf. Die Grenze überquert man ebenso für einen Kino-, Club- oder Theaterbesuch.

Für viele Arzttermine müssen die Kleinwalsertalerinnen und Kleinwalsertaler nach Deutschland.
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Und auch im Gesundheitswesen ist man auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen: Die nächste Schwerpunktklinik befindet sich im rund 30 Kilometer entfernten deutschen Immenstadt, das nächstgelegene Spital in Oberstdorf. Die Rettung wird über das Deutsche Rote Kreuz mitabgewickelt, und auch Orthopäden, Urologen oder Internisten muss man in Deutschland aufsuchen, denn Fachärztinnen und Fachärzte gibt es im Tal, außer einen Zahnarzt, keine.

Entfalten in der Abgeschiedenheit

Die Entscheidung, als junger Arzt ausgerechnet hierher zu kommen, sei eine radikale, sagt Lingg. Den Schritt gehe in der Regel nur ein absoluter Bergfex, jemand, der im Tal Wurzeln oder eine Liebe habe. Wurzeln hatte Dr. Lingg damals im Kleinwalsertal keine, und die Liebe, die hatte er schon mitgebracht, nämlich von der anderen Seite des Berges. Als gebürtige Bregenzerwälder kamen er und seine Frau vor 37 Jahren ins Tal. Er war gerade mal 28 und kurz zuvor mit der Ausbildung in Wien und Vorarlberg fertig geworden, als er eine Stelle als Allgemeinmediziner im Kleinwalsertal annahm.

"Damals hat man sich, im Gegensatz zu heute, noch bemüht, als Arzt irgendwo unterzukommen", sagt Lingg. Und das Kleinwalsertal hätte er als Herausforderung gesehen. "Als Allgemeinmediziner ist man in der medizinischen Hierarchie üblicherweise ganz unten. An Orten wie diesen kann man sich auf eine Weise entfalten, die sonst nicht möglich wäre."

Und so werkte der Bergdoktor im Laufe der Jahrzehnte in und außerhalb seiner Praxis als medizinischer Tausendsassa: Er kümmerte sich als Erstversorger um Unfallverletzte und als Palliativversorger um Schwerkranke, er war Bergretter und bei der Flugrettung, führte an seinen freien Tagen Schuluntersuchungen durch und war Mitbegründer des Krankenpflegevereins.

Auch um zahlreiche Ski-Unfälle kümmerte sich der Bergdoktor hier jahrelang.
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Bergdoktor der Herzen

Aber auch um das seelische Wohlbefinden der Talgemeinschaft kümmerte sich Lingg. Im Laufe der Jahre gründete er Initiativen und Gesprächsrunden – so etwa eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige, eine für trockene Alkoholiker und eine für Angehörige von trockenen Alkoholikern. Für die regelmäßigen Treffen der Gruppen stellte der Mediziner den Warteraum seiner Praxis zur Verfügung: "Den haben wir damals extra so groß gebaut", sagt er stolz.

Auch im Kleinwalsertal verehrt man seine Ärzte. Als aufopferungsvoll, engagiert und mitfühlend beschreiben Dr. Lingg seine Patienten. Jemand, der sich von Kopf bis Fuß für Leute interessierte. Vor der Kulisse der malerischen Kleinwalsertaler Berge drängt sich unweigerlich ein Vergleich auf: ob er sich mit dem Bergdoktor identifizieren könne? "Im Gegensatz zu dem Bergdoktor im Fernsehen ist es bei mir nicht den ganzen Tag um meine Liebesgeschichten gegangen." Er sei, wenn schon, der echte Bergdoktor, sagt Lingg.

Die ORF-Serie "Der Bergdoktor", die wöchentlich das Leben und die Liebesgeschichten eines Tiroler Bergdoktors nacherzählte, könnte ebenso gut vor der verschneiten Kulisse der Kleinwalsertaler Berge spielen.
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Regionalität als Chance

Die enge Verbundenheit mit den Menschen und ihren Problemen sei das gewesen, was den Job für ihn hier so schön gemacht habe. Er könne verstehen, dass so ein Ort nicht für alle attraktiv ist, aber man könne ihn auch als Chance sehen. Und während man an der geografischen Lage des Kleinwalsertals nun mal nichts ändern könne, könne man andere Faktoren, die nötig wären, um den Beruf des Arztes für Junge wieder attraktiver zu machen, sehr wohl beeinflussen:

"Das, was man als junger Arzt von seinem Job will, hat sich in den letzten 40 Jahren gewaltig geändert" – das beträfe einerseits den Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance, andererseits müsse der Beruf frauengerechter werden. Und dann wäre da noch das Thema Gemeinschaftspraxis: "Das klassische Landarztmodell, das ich in der Praxis mit meiner Frau und zwei Assistentinnen gelebt habe, ist sicher überholt. Der Trend geht klar hin zur Gemeinschaftspraxis."

Auch die Bundesregierung will in Zukunft mehr Gemeinschaftspraxen errichten, um die Primärversorgung in Österreich auszubauen. Im Rahmen des Projekts "Bergdoktor" soll sich bis 2025 die Zahl der Primärversorgungszentren verdreifachen. Im Kleinwalsertal versuche man schon länger ein entsprechendes Modell umzusetzen. Dies gestalte sich aber vor allem rechtlich äußerst kompliziert, sagt Lingg. Näher dazu äußern könne er sich nicht. Das Thema ist in der Gemeinde kein einfaches.

Noch nicht hinüber

Aber auch ohne Gemeinschaftspraxis ist es dem Kleinwalsertal nach langer Suche nun offenbar gelungen, zumindest eine der beiden freien Stellen zu besetzen: Das Dorf redet schon seit Monaten von ihm, dem jungen Mediziner, der im Tal aufgewachsen ist und nun, nach seinem Medizinstudium, wieder in die Heimat zurückkehren soll. Ende des Jahres soll es so weit sein. Ursprünglich hätte er im Frühjahr diesen Jahres anfangen sollen, seine Praxis sei aber nicht rechtzeitig fertig geworden.

Und Dr. Lingg? Sorgen brauche man sich in seiner Pension nicht um ihn machen. Die würde er jetzt nämlich erst mal genießen, vor allem mit seiner Familie und seinen Enkelkindern. Vorsorglich hat er aber kurz nach seinem Abgang im Herbst noch eine Selbsthilfegruppe gegründet. Im Wartezimmer seiner sonst leeren Praxis trifft er sich nun regelmäßig mit Post-Covid-Patientinnen und -Patienten. Und auch an einer neuen Initiative scheint der Bergdoktor zu tüfteln. Woran genau, will er nicht verraten, nur so viel: "Natürlich habe ich noch was vor, ich bin ja noch nicht hinüber." (Viktoria Kirner, 29.3.2023)