Das Komitee habe "keinerlei Beweise" dafür, dass Johnson "vorsätzlich oder leichtsinnig" das Unterhaus anschwindelte – so lautet die Verteidigungslinie von Boris Johnson.

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Hat Boris Johnson als Premierminister das britische Unterhaus belogen? Machte er zu den zahlreichen Lockdown-Partys an seinem Amtssitz in der Downing Street wissentlich oder unwissentlich falsche Angaben? Und schließlich: Informierte er die Abgeordneten gemäß der parlamentarischen Geschäftsordnung so rasch wie möglich über Mitteilungen, die sich als falsch herausgestellt hatten?

Um diese drei Fragen wird sich alles drehen, wenn an diesem Mittwoch der Integritätsausschuss des Unterhauses Alexander Boris de Pfeffel Johnson (58) in den Zeugenstand ruft. Ungewöhnlicherweise wird die Anhörung live im Fernsehen übertragen. Vereidigungen sind bei solchen Gelegenheiten unüblich, der Wahrheitspflicht unterliegt der frühere Regierungschef ohnehin – eine schwere Aufgabe für den Konservativen, der ein notorisch flexibles Verhältnis zur Realität unterhält. Vorsichtshalber wird Johnson den ebenso berühmten wie teuren Kronanwalt Lord David Pannick an seiner Seite haben, natürlich auf Kosten der Steuerzahler.

Für Johnson geht es um viel. Das siebenköpfige Gremium kann Sanktionen vorschlagen, die von der gesamten Parlamentskammer abgesegnet werden müssen, was normalerweise Formsache ist. Die Strafen reichen von der Verpflichtung zu einer förmlichen Entschuldigung bis hin zur 30-tägigen Suspendierung vom Hohen Haus, was automatisch eine Nachwahl im Westlondoner Wahlkreis Uxbridge zur Folge hätte.

Flotte Sprüche, zerzauste Haare

Ob die Karriere des herausragenden Politikers, der seinen scharfen Verstand gern hinter flotten Sprüchen und zerzausten Haaren verbirgt, damit endgültig beendet wäre? Lang haben die Briten dem weißblonden Spaßvogel in der Downing Street fast alles verziehen und ihm 2019 einen triumphalen Wahlsieg beschert. Je deutlicher sich der damalige Slogan "Den Brexit vollenden" (Get Brexit done) als – wissentliche oder unwissentliche? – falsche Versprechung herausstellt, desto stärker wendet sich die Bevölkerung von ihrem einstigen Liebling ab. "Der Boris-Effekt auf das Abschneiden meiner Partei scheint abzunehmen" urteilt der vorsichtige konservative Meinungsforscher Lord Robert Hayward. "Das ist gut für die Tories."

So wird es Johnson-Nachfolger Rishi Sunak auch sehen. Der Premierminister parierte zu Wochenbeginn alle Fragen zum bevorstehenden Hearing mit Hinweis auf die "normalen" Gepflogenheiten des Parlaments. Ausdrücklich mochte sich der 42-Jährige auch nicht jener Gruppe von Boris-Getreuen um die Ex-Minister Nadine Dorries und Jacob Rees-Mogg anschließen, die den Integritätsausschuss schon vorab als politisch voreingenommenes "Känguru-Gericht" verunglimpften. Er sei, teilte Sunak mit, auf den Vorgang "nicht fokussiert".

Drei chaotische Jahre

Hingegen haben die sieben Mitglieder des Gremiums in den vergangenen Monaten wenig anderes ins Visier nehmen können. Nachdem sich der etatmäßige Vorsitzende Chris Bryant wegen allzu Johnson-kritischer Äußerungen entschuldigt hatte, übernahm die Labour-Veteranin Harriet Harman das Zepter. Die 72-Jährige will nach 41 Jahren Zugehörigkeit nicht mehr fürs Unterhaus kandidieren, hat also ebenso wenig zu verlieren wie der prominenteste Tory Bernard Jenkin (63). Insgesamt gehören dem Ausschuss vier Konservative, zwei Labour-Leute sowie ein Abgeordneter der Schottischen Nationalpartei (SNP) an.

In den gut drei chaotischen, krisenreichen, von zahlreichen Skandalen gekennzeichneten Jahren seiner Amtszeit bis September 2022 hatte sich Johnson nie um althergebrachte Bräuche oder Vorschriften geschert. Das Parlament behandelte er häufig wie ein lästiges Hindernis seines präsidentiellen Stils. Ob er in der Anhörung zu einem nüchternen Stil findet, anstatt die Abgeordneten wie dumme Buben und Mädchen zu behandeln? Davon dürfte die Schärfe mancher Einschätzung abhängen.

Alkoholgelage bis spät in die Nacht

Denn an den Tatsachen gibt es wenig zu rütteln. Der Premier hatte im Winter 2021/22 die Existenz von Lockdown-Partys zunächst schlichtweg geleugnet, später seine eigene Unkenntnis der Vorgänge beteuert. Dabei ließ der Bericht von Spitzenbeamtin Sue Gray keine Zweifel an den systematischen Rechtsbrüchen in der Downing Street: Alkoholgelage bis tief in die Nacht, mit Partymüll übersäte Büros, offener Hohn für Sicherheitsbeamte und Putzpersonal.

Einer separaten Untersuchung der Kriminalpolizei zufolge verstießen 83 Personen gegen Corona-Vorschriften und damit gegen geltendes Recht. Zu all jenen, die Geldstrafen bezahlen mussten, zählten außer Johnson selbst auch dessen Frau Carrie sowie der damalige Finanzminister Sunak. Beide hatten im Juni 2020 an einer Geburtstagsparty für den Premier teilgenommen. Dieser übernahm später für die Zustände am Regierungssitz "die volle Verantwortung", wies Rücktrittsforderungen der Opposition jedoch genervt zurück. Im Juli zwang ihn die eigene Fraktion dazu.

Ein seit Tagen mit großer Bugwelle angekündigtes Dossier des Lockdown-Sünders gab am Dienstag die Verteidigungslinie vor: Das Komitee habe "keinerlei Beweise" dafür, dass Johnson "vorsätzlich oder leichtsinnig" das Unterhaus angeschwindelt habe. Mal sehen, ob Harman und ihre Kollegen die Sache ähnlich entspannt sehen. (Sebastian Borger aus London, 22.3.2023)