Blick auf die Brookyln Bridge in New York. Das Bauwerk ist Karl Nehammers "Lieblingsbrücke" – aufgrund ihrer Geschichte, der Bauweise und vor allem wegen ihrer Symbolik.

Foto: AP Photo/Julia Nikhinson

Karl Nehammer hat ein Lieblingsbild: die Brooklyn Bridge in New York, "meine Lieblingsbrücke". "Unendlich oft" könne er sich Aufnahmen des Bauwerks ansehen, erzählte der Kanzler in mehreren Interviews: Ihn fasziniere die Konstruktion, ihre Geschichte, vor allem aber ihre Symbolik, sagte er einmal dem "Profil": "Als Brückenbauer muss man stark sein, weil viel Gewicht auf der Brücke liegt." Befragt nach seinem Amtsverständnis, antwortet Nehammer: "Brückenbauer." Dementsprechend oft benutzt er die Brückenmetapher: Sie fiel bei seinem ersten bilateralen Besuch in der Schweiz ebenso wie bei seiner jüngsten Überseereise nach Marokko.

Nicht nur der Kanzler, nahezu die gesamte österreichische Politik pflegt seit der Nachkriegszeit das Image der Republik, die dank ihrer Neutralität auch als kleiner Staat eine diplomatische Größe sei. Dem Volk gefällt das Bild. Die Fachwelt hingegen hält es für einen strapazierten Mythos. Zumindest jene außerhalb des Minoritenplatzes in Wien, wo das Außenministerium beheimatet ist. Dort zählt man auf Nachfrage viele Beispiele für Österreichs Funktion als Vermittler, Gastgeber und Ort des Dialogs auf: die Wiener Konferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag, an dessen Schaffung sich Österreich maßgeblich beteiligte, etwa. Oder Österreichs Engagement zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten. Die Ausrichtung einer Belarus-Konferenz 2021, Gespräche zwischen Armenien und der Türkei und die über 50 hierzulande beheimateten, internationalen Organisationen.

"Ziemliche Farce"

Die Liste ist lang, aber taugt sie als Beweis, dass Österreich auf der Weltbühne die Rolle einnimmt, die es sich selbst gibt? "Ich halte die Brückenbauermetapher für eine ziemliche Farce", lautet das Urteil Gustav Gressels. Der Österreicher ist Experte für sicherheitspolitische und militärstrategische Fragen am Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin. Er sagt: "Dass wir große Brücken bauen würden, ist eine sehr österreichische Selbstwahrnehmung." Frage man im Ausland, ob Österreich als Vermittler wahrgenommen werde, "wird man komisch angeschaut".

Die Marke des Brückenbauers im Herzen Europas baute sich das Land im Kalten Krieg auf. Der oft bemühte Vergleich mit der blockfreien Außenpolitik und dem Engagement Bruno Kreiskys ist längst unzulässig. Seit dem EU-Beitritt ist die österreichische Außenpolitik in die europäische eingebunden. Auch im Verhältnis mit vergleichbaren Ländern glänzt Österreich nicht durch Initiativen oder Präsenz. Schweden, Finnland oder Norwegen wenden deutlich mehr Energie und Ressourcen auf, um diplomatische Prozesse zu unterstützen.

Gute Diplomaten, wenige Außenpolitiker

Österreich verfügte in jüngerer Zeit über einige profilierte Diplomaten, aber nur wenige versierte Außenpolitiker. Das Budget im Außenamt wurde gekürzt, Botschaften wurden geschlossen. Entsprechend rar gesät sind die diplomatischen Erfolge. Auf das Iran-Abkommen verweist man in Wien zwar mit einigem Stolz. Das Außenamt stellte 2015 den Verhandlungsort zur Verfügung, der damalige Außenminister Sebastian Kurz schüttelte Gästen die Hand, es gab viele Fotos. Bei den Gesprächen saß Österreich aber nicht mit am Tisch, den es im Palais Coburg aufgebaut hatte. Mittlerweile ist das Abkommen weitgehend gescheitert.

Die militärischen Einsätze Österreichs haben stets als außenpolitisches Aushängeschild gegolten. Der überstürzte Abzug der Blauhelme auf den Golanhöhen, den Ex-Kanzler Werner Faymann 2013 wegen des Syrienkrieges beschloss, kostete Wien aber viel Renommee. Im selben Jahr engagierte der damalige Außenminister Michael Spindelegger den Nation-Branding-Experten Simon Anholt. Am Ende riet der britische Politikberater dazu, Österreich als "Brückenbauer für die Welt" zu positionieren, als Drehscheibe zwischen Ost und West und Vermittler bis nach Zentralasien und Nordafrika. "Klingt schön, hat aber wenig mit der Realität zu tun", erzählt Martin Weiss. Der langjährige Diplomat war zuletzt Österreichs Botschafter in den USA, heute leitet er das Salzburg Global Seminar. "Wo genau vermittelt Österreich zwischen Ost und West?", fragt er: "Die Rolle ist uns um ein paar Schuhnummern zu groß. Woher sollte auch die Kompetenz und Glaubwürdigkeit kommen, als Vermittler aufzutreten in einer Region, in der wir uns minimal engagieren?"

Vermittlungsversuch abgelehnt

Eine Lektion Österreichs internationales Gewicht betreffend erhielt Kanzler Nehammer, nachdem er kurz nach Ausbruch des Ukrainekrieges zuerst nach Kiew und dann nach Moskau gereist war. Sprach er vor der Abfahrt noch davon, als "redlicher Makler" auftreten zu wollen, distanzierte er sich anschließend selbst von der Idee.

Die in Wien beheimatete Geopolitik-Expertin Velina Tchakarova sagt, eine österreichische Vermittlung werde nicht akzeptiert, da Österreich "von beiden Seiten nicht als Brückenbauer betrachtet wird" – im Gegensatz etwa zur Türkei, die zu Russland und der Ukraine gleichermaßen gute Beziehungen unterhält. Tchakarova argumentiert, die Regierung vermeide eine sicherheitspolitische Debatte im Zuge des Krieges und versuche stattdessen, die Neutralität "als brückenbauende Funktion" zu vermarkten. Dabei werde die Neutralität flexibel ausgelegt und von außen nicht der Selbstdefinition entsprechend wahrgenommen.

Als der Kanzler jüngst seine Zukunftsvision für das Land präsentierte, fehlte die Metapher nicht. Österreich stehe an der Seite der Ukraine. Aber: "Wir sind auch die, die immer bereit sind, Brücken zu bauen." (Manuel Escher, Anna Giulia Fink, 28.3.2023)



Was sagen Fachleute zu Österreichs "Brückenbauer-Rolle"?

Gustav Gressel (ECFR, Berlin)

"Wir waren nie Brückenbauer, selbst im Kalten Krieg war das ein Fantasiekonstrukt. Österreich war und ist Gastgeberland für viele internationale Organisationen, aber diplomatisch haben wir nie Brücken gebaut."
Foto: ECFR

Martin Weiss (Salzburg Global Seminar, Salzburg und Washington, D.C.)

"Das Brückenbauerkonzept hat schon einen ziemlich langen Bart. Der Mythos, dass gerade neutrale Staaten die besseren Brückenbauer sein sollen, zerschellt derzeit an der Realität."
Foto: BMEIA

Velina Tchakarova (Face, Wien)

"Österreich ist von einer Insel der Seligen zu einem Realitätsverweigerer geworden. Die Regierung betont, Brückenbauer zu sein, verschließt dabei aber die Augen vor den sicherheits- und geopolitischen Entwicklungen."
Foto: Ralph Manfreda

Stefan Lehne (Carnegie Europe, Brüssel)

"Im Kalten Krieg gab es eine gewisse Brückenfunktion, etwa in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Erinnerung setzte sich in den Köpfen mancher Politiker fest, Österreich wird aber vor allem als EU-Mitglied gesehen."
Foto: ÖGfE

Natalie Tocci (IAI, Rom)

"Ich sehe nicht viel Potenzial. Das liegt nicht an Österreich, sondern an der internationalen Situation, die Vermittlung nur 'Power-Brokern' ermöglicht, die den Parteien etwas anbieten können. Neutralität ändert in dieser Frage wenig."
Foto: Robert Newald

Daniel Hamilton (Johns Hopkins, USA)

"Wien hat internationale Organisationen, aber auch New York hat das Uno-Hauptquartier, obwohl die USA in vielen Allianzen sind. Eine Rolle gibt es auf dem Balkan – eher aus dem Kaisererbe und nicht wegen 'Neutralität'."
Foto: Wilson Center