In einem bislang einzigartigen Feldversuch führte das oben gezeigte Poster eines Naturschutzgebiets dazu, dass die Vermüllung auf Abfallflächen nachhaltig zurückging.
Foto: IHS/Wiener Wohnen

Wer im Mehrparteienhaus lebt, dem kommt die Situation vielleicht bekannt vor. Im gemeinsamen Müllraum findet sich immer wieder Mist auf dem Boden statt in der Tonne. Achtlos weggeworfene Notizzettel, liegengelassene Zigarettenstummel und anderer Abfall verursachen nicht nur zusätzliche Reinigungskosten. Vermüllte Bereiche schlagen sich auch auf das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner, sagt die Wirtschafts- und Sozialpsychologin Katharina Gangl. In großen Wohnanlagen kann das durchaus weite Kreise ziehen.

"Wenn die Leute glauben, dass ihre Nachbarn Schmutzfinken sind, erodiert dadurch der soziale Zusammenhalt", erklärt die Forscherin. Nicht zuletzt kommt auch der hygienische Aspekt dazu, früher oder später ziehen verschmutzte Müllräume Ungeziefer wie Ratten an. Wie sich all diese Probleme verringern lassen, hat Gangl in einem Feldexperiment in Wiener Gemeindebauten erforscht. Die Leiterin der Forschungsgruppe Verhaltensökonomie am Institut für Höhere Studien (IHS) und ihr Team wollten dabei einfach anzuwendende Interventionen testen.

Pionierarbeit in 440 Müllräumen

Das Mittel der Wahl waren Poster mit vier verschiedenen Motiven, von denen jeweils eines in ausgewählten Müllräumen montiert wurde. Ein Poster zeigte die richtige Entsorgung von Abfall, eines betonte die finanziellen Vorteile eines sauberen Müllraums. Zwei weitere Poster zeigten lediglich Bilder – einmal waren beobachtende Augen abgebildet, einmal das Naturschutzgebiet Donauwiese am Rande Wiens. Über einen Zeitraum von sieben Wochen wurde evaluiert, wie die jeweiligen Bilder auf die Sauberkeit wirken.

Vier Interventionen in Form von Postern sollten zeigen, wie sich die Sauberkeit in Müllräumen steigern lässt. Eines der Plakate bezog sich auf anfallende Reinigungskosten und hob die finanziellen Vorteile sauberer Müllräume hervor.
Foto: IHS/Wiener Wohnen

Insgesamt wurden für den Versuch 440 Müllflächen im Innen- und Außenbereich in 89 Sozialwohnbauten ausgewählt. Um statistische Effekte erkennen zu können, musste jedes Sujet in rund 90 Abfallbereichen angebracht werden. So waren knapp 30.000 Wohnungen und mehr als 71.000 Einwohnerinnen und Einwohner in 15 Wiener Gemeindebezirken in den Versuch eingebunden. Die Größe der Messung und die Zahl der getesteten Maßnahmen sind bisher einzigartig.

Bei dem Pionierversuch standen dem IHS-Team gut 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Wiener Wohnen zur Seite. Über sieben Wochen fotografierten sie mehrmals alle Müllstationen: Zu Beginn wurde so die Ausgangssauberkeit beurteilt, 48 Stunden nach dem Aufhängen der Poster sollten Fotos die kurzfristigen Effekte zeigen.

Am Ende der Untersuchungszeit wurde fotografiert, um die mittelfristige Wirkung festzustellen. "Das musste alles wie bei einem Uhrwerk funktionieren, um die Messungen stabil zu halten", sagt Gangl. "Die Studie war nur möglich, weil die Wiener-Wohnen-Leute das geschafft haben", lobt sie ihren Projektpartner.

Eines der in Müllräumen angebrachten Poster zeigte, wie die richtige Entsorgung von Müll funktioniert.
Foto: IHS/Wiener Wohnen

Die Ergebnisse überraschten dann. "Wir hätten vermutet, dass die Interventionen am Anfang funktionieren und sich die Situation dann langsam wieder dem Ausgangspunkt annähert", erinnert sich Gangl. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Die Effekte verstärkten sich – egal ob die Poster die Situation verbesserten oder verschlechterten. Wie sich zeigte, funktionierten die expliziten Ansätze, die Vermüllung direkt ansprachen oder erwünschtes Verhalten aufzeigten, nicht sonderlich gut.

Die finanzielle Komponente hervorzuheben zeigte keine nennenswerte Wirkung. Bei dem Poster, das die richtige Entsorgung von Müll darstellte, stieg das Littering im Vergleich zur Kontrollgruppe sogar. Eine mögliche Erklärung ist ein Mechanismus namens Reaktanz. "Der erhobene Zeigefinger kann Menschen dazu provozieren, genau das Gegenteil dessen zu tun, was ihnen nahegelegt wird", erläutert Gangl.

Natur vs. erhobener Zeigefinger

Wesentlich bessere Effekte erzielten die impliziten Zugänge, bei denen das Thema Müll überhaupt nicht angesprochen wurde. So wirkten die wachenden Augen, die soziale Kontrolle simulieren, und auch das Naturbild positiv, die Vermüllung sank um je 4,7 Prozent. Dass die Wirkung nicht stärker ausfiel, ist der Ausgangssituation geschuldet. Die Entsorgungsbereiche waren so sauber, dass nicht viel Potenzial zur Verbesserung blieb.

Während explizite Ansätze das Thema Müll direkt ansprechen, tun das implizite Ansätze nicht. In letztere Kategorie fallen die wachenden Augen.
Foto: IHS/Wiener Wohnen

Dennoch stieg die positive Wirkung im Lauf der Zeit an. "Implizite Reize könnten dazu führen, neue Routinen zu entwickeln, die durch Verfestigung eine Verhaltensänderung bewirken", gibt die Forscherin eine mögliche Erklärung. Die Wirkung des Donauwiesen-Anblicks streicht sie besonders hervor. Naturbilder könnten auch in anderen Bereichen hilfreich sein, die Menschen würden sich dadurch sozialer verhalten.

Während die Studie im November 2022 im Fachblatt "Journal of Environmental Psychology" publiziert wurde, arbeitetet das IHS-Team schon an der Auswertung der Folgestudie, in der die Postereffekte über ein Jahr hinweg beobachtet wurden. Die endgültigen Daten lassen noch etwas auf sich warten, "aber die ersten Ergebnisse sehen vielversprechend aus", verrät Gangl.

IHS-Forscherin Katharina Gangl erzählt im Erklär-Video von den Maßnahmen für mehr Sauberkeit in den Gemeindebau-Müllräumen.
Institut für Höhere Studien - IHS

Der Müll der anderen

Bei einem Wochenendbesuch im Gemeindebau, um persönlich mit Bewohnerinnen und Bewohnern zu sprechen, kam der Forscherin die Idee für eine weitere Studie. Mitten im Gespräch mit Gangl kniete sich ein Herr nieder, um Zigarettenstummel aufzuheben. Ein anderer Bewohner bugsierte während der Unterhaltung einen auf dem Boden liegenden Müllsack in den dafür vorgesehenen Container. Sie selbst sammle schon seit langem Müll ein, den sie bei Ausflügen und Spaziergängen in der Natur finde. Dieses Verhalten auch bei anderen Menschen in gänzlich anderer Umgebung zu sehen begeisterte sie.

Sich für den Müll anderer verantwortlich zu fühlen löse im Alltag jedoch vielfach Stirnrunzeln aus. Viele von uns sind mit Sätzen wie "Greif das nicht an, das ist schmutzig", "Was sollen die Leute denken?" aufgewachsen. "Diesen Zugang müssen wir überdenken", sagt Gangl, die in einer ersten Recherche kaum Literatur dazu fand, wie viele Menschen den Müll anderer aufheben und entsorgen.

"Das ist eine enorme Gratisleistung an der Gesellschaft", erklärt sie. Gleichzeitig bestehe dazu eine enorme Forschungslücke. Diese zu schließen könnte auch für das Littering in freier Natur und den Umweltschutz große Tragweite haben. "Denn Teile des gedankenlos weggeworfenen Abfalls finden irgendwann ihren Weg in die Donau und ins Meer", sagt sie. Und dort schwimme schon genug Müll. (Marlene Erhart, 26.3.2023)