Wie berichtet man mit Bildern über den Krieg in der Ukraine? Die Österreicherin Lisi Niesner arbeitet seit acht Jahren für Reuters in Österreich und Deutschland, seit 2022 lebt sie in Berlin. Große Sportereignisse hat sie ebenso mit der Kamera festgehalten wie politische. Zuletzt hat sie mehrere Wochen in der Ukraine fotografiert, am 12. März kam sie wieder in Berlin an. Die Fragen zu der Zeit und ihrer Arbeit in der Ukraine hat die festangestellte Fotografin nach ihrer Rückkehr schriftlich beantwortet.

STANDARD: Wie kann man sich den Alltag einer Fotografin im Kriegsgebiet vorstellen?

Niesner: Der Alltag in der Ukraine bedeutet, sich schnell auf Situationen einzustellen. Plötzlich gibt es keinen Strom und keine Heizung, die Kommunikation ist weg, und man weiß nicht, wann Telefon und Internet wieder nutzbar sein werden. Sie befinden sich in einem Gebiet, das unter Artillerie- und Raketenbeschuss steht, und jederzeit und überall können Treffer einschlagen.

Foto: REUTERS / LISI NIESNER

STANDARD: Auf einem Ihrer Fotos sind ukrainische Soldaten Anfang März nahe Bachmut zu sehen, einer lacht auf der Aufnahme. Wie ist das Foto entstanden?

Niesner: Interessant, dass Sie dieses Foto ausgewählt haben. Diese Soldaten fuhren mit einer Panzerhaubitze an mir vorbei in Richtung der ersten Frontlinie nach Bachmut. Bachmut wird als das "Tor zur Hölle" bezeichnet. Viele Soldaten lachen oder reagieren mit freudigen Gesten, wenn sie bemerken, dass ich die Kamera auf sie richte.

STANDARD: Bitten Sie Menschen manchmal, sich für ein Foto an einen bestimmten Ort zu begeben, in die Kamera zu schauen und Ähnliches – oder entstehen alle Ihre Aufnahmen im Moment?

Niesner: Wir bitten niemanden, etwas zu tun – Reuters hat strenge Regeln, keine Fotos zu stellen. Ich dokumentiere den Moment, den ich sehe. Natürlich frage ich zum Beispiel: "Darf ich bei Ihnen zu Hause fotografieren?" oder "Darf ich ein Porträt machen?" Die Person entscheidet, ob sie in die Kamera schaut oder nicht. Meistens warte ich und beobachte, was passiert.

STANDARD: Kann ein Foto, das im Krieg aufgenommen wird, objektiv sein, oder stützt es immer die Darstellung einer Kriegspartei?

Niesner: Es gibt ein Zitat: "Das erste Todesopfer im Krieg ist die Wahrheit." Beide Seiten versuchen, die Wahrheit zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren. Das ist klar. Aber wenn ich Soldaten fotografiere, die eine Rakete aus einem Mehrfachraketensystem abfeuern, was ist daran nicht objektiv?

STANDARD: Wie reflektieren Sie in diesem Zusammenhang Ihre eigene Arbeit? Worin sehen Sie die Rolle von Fotografen und Fotografinnen in Konflikt- oder Kriegsgebieten allgemein?

Niesner: Ich bin seit 18 Jahren als Pressefotografin tätig. Die Diskussion darüber, ob Fotografie objektiv ist oder überhaupt nicht sein kann, ist eine unendliche Geschichte. Die Wahrheit ist, dass der Betrachter das Foto interpretiert. Ich vermittle Ihnen einen Eindruck, eine Vorstellung von der Realität. Die Bewertung ist Ihnen überlassen, Sie entscheiden über die Wirkung. Die größte Herausforderung besteht darin, unvoreingenommen zu sein. Ich persönlich verabscheue Waffen. Menschen sterben. Es macht mir keine Freude, diese Tatsachen zu fotografieren. Trotzdem bin ich hier und schaue mir die Raketeneinschläge an, die zerstörten Städte, den blutverschmierten Asphalt. Als Kriegsreporterin lebe ich mit dem Dilemma, dass ich bereit bin, Schreckliches zu dokumentieren – aber ich hoffe, dass nie etwas Schreckliches passiert.

Lisi Niesner in der Ukraine.
Foto: REUTERS

STANDARD: Worauf achteten Sie in der Ukraine besonders beim Fotografieren – im Unterschied zu anderen Fotoaufträgen wie etwa Sportereignissen?

Niesner: Ich achte besonders darauf, wohin ich gehe. Ich schaue oft in den Himmel. Ich schaue oft nach vorne und hinter mich. Ich höre genau hin, um den Unterschied zwischen eintreffendem und erwidertem Artilleriefeuer zu hören, so wie es uns bei der Ausbildung in Krisen- und Kriegsgebieten beigebracht wird, um uns in eine sicherere Position zu bringen.

STANDARD: Waren Sie als Fotografin jemals allein unterwegs im Land?

Niesner: Reuters-Journalisten sind in der Ukraine immer mit einem Team unterwegs. Ich kann mich in den gelben und grünen Zonen frei bewegen. Das sind Zonen, die als relativ harmlos gelten, das heißt, ich kann alleine spazieren gehen oder ein Restaurant besuchen.

STANDARD: Wie verbrachten Sie die Zeit in der Ukraine, in der Sie nicht arbeiteten?

Niesner: In der Ukraine sind die Tage sehr vollgepackt. Das Team muss täglich Entscheidungen für den nächsten Tag treffen. Wenn wir nicht arbeiten, verbringen wir die Zeit mit einem gemeinsamen Essen oder ruhen uns im Hotel aus.

STANDARD: Wie werden die Orte, an denen Sie fotografieren, ausgewählt, Sicherheitsvorkehrungen und Unterkunft organisiert?

Niesner: Reuters arbeitet mit einem guten Sicherheitsteam zusammen. Diese Spezialisten wählen die Hotels und die Reiserouten aus und beraten uns in Sicherheitsfragen, zum Beispiel wenn wir uns der Frontlinie nähern.

Foto: REUTERS / LISI NIESNER

STANDARD: Auf einem Ihrer Fotos ist eine Mutter mit ihrer im Krieg geborenen Tochter zu sehen. Wie kommen Sie mit der Zivilbevölkerung in Kontakt, etwa mit dieser Familie?

Niesner: Wir nehmen oft Kontakt zur Zivilbevölkerung auf, indem wir einfach mit den Menschen auf der Straße sprechen. Diese Familie haben wir in einem Vorort von Cherson gefunden, der täglich unter russischem Beschuss steht.

STANDARD: Wie reagieren die Fotografierten – Soldatinnen und Soldaten wie Zivilbevölkerung – gewöhnlich auf Sie?

Niesner: Sehr unterschiedlich. Manche Menschen sind müde, verzweifelt und haben alles verloren. Es gibt eine große Bandbreite an Reaktionen. Wenn ich in der Ukraine eine Person einfühlsam abbilden will, versuche ich, mit ihr zu sprechen. Ich halte die Kamera hoch und frage: мо́жно ("moschna" bedeutet so viel wie "Darf ich?"). Dann kommt ein Okay oder eine Absage. Im Falle einer Ablehnung werde ich sie respektieren. Reuters arbeitet mit Redakteuren zusammen, die unsere Fragen für die Zivilbevölkerung und das Militär übersetzen.

Foto: REUTERS / LISI NIESNER

STANDARD: Sie haben auch Verwundete fotografiert. Gibt es für Sie eine bestimmte Grenze, ab der Sie Eindrücke nicht mehr mit der Kamera festhalten?

Niesner: Ja, es gibt Grenzen. Ohne Zustimmung der Person werde ich ihre Identität schützen und die Person nicht zeigen. Bei dieser Szene im Krankenwagen war der Soldat bewusstlos. Ich weiß nicht, ob er überlebt hat. Ich habe keine Fotos veröffentlicht, auf denen man ihn erkennen könnte.

STANDARD: Haben Sie bestimmte Strategien, um zu verarbeiten, was Sie erleben?

Niesner: Mein Freund, der auch Pressefotograf ist, gab mir den besten Tipp: Benutze die Kamera als Schutzschild. Das funktioniert bei mir.

Niesner fotografiert auch bei Sportveranstaltungen.
Foto: REUTERS

STANDARD: Sie haben in Wien Fotografie studiert. Wie sind Sie ursprünglich zum Fotografieren gekommen?

Niesner: Als ich ein Kind war, hatte mein Vater immer eine Kamera dabei, um Schnappschüsse von der Familie zu machen. Die Kamera hat mich fasziniert. Ein Gerät, das einen Moment einfriert und ihn auf einem Blatt Papier festhält. Das wollte ich auch, und es ist auch heute noch meine größte Leidenschaft. (Christina Rebhahn-Roither, 29.3.2023)