Martin Gore (links) und Sänger Dave Gahan schließen 2023 an die große Zeit ihrer Karriere bis Ende der 1990er-Jahre an.

Foto: Anton Corbijn

Im Video zur aktuellen Single Ghosts Again verweist Regisseur Anton Corbijn auf eine Szene aus Ingmar Bergmans Filmklassiker Das Siebente Siegel aus dem Jahr 1957. Maschinist Martin Gore und Sänger Dave Gahan von Depeche Mode sitzen in körnigem Schwarz-Weiß als etwas abgelebt wirkende Hoodie-Mönche auf einem Hausdach in New York und spielen zu reichlich nostalgischen Klängen Schach. Das Spiel der Könige ohne Land. Die Klänge sind irgendwo in der Mitte von Gazebo und dessen Italo-Disco-Hit I Like Chopin von 1983 und den Sounds angesiedelt, mit denen Depeche Mode etwa im selben Jahr auf dem Album Construction Time Again noch als Haute Couture und nicht als heutiges Serienmodell "seriös" wurden.

Gedenke des Todes

Das ist lange her. Die großen Themenbögen, das Spiel vom Leben und vom Tod sind geblieben. Egal wie es ausgehen mag, am Ende lungert das zum Duo geschrumpfte britische Popunternehmen nach über vier Jahrzehnten im Geschäft in Ghosts Again auf einem Friedhof herum und ruft uns den lateinischen Stickdeckenspruch "Memento Mori" ins Gedächtnis: "Gedenke des Todes!" Das Vanitasmotiv von der Vergänglichkeit allen Seins beschäftigt Depeche Mode nicht erst seit dem tragischen frühen Tod des dritten Bandmitglieds Andrew Fletcher im Vorjahr.

Depeche Mode begannen ihre Karriere noch mit dramatischen, der Schwerkraft trotzenden Föhnfrisuren und in Karottenjeans der frühen 1980er-Jahre. Die heimatliche Kleinstadt nennt sich Basildon und liegt nordöstlich von London. Auch Bob der Baumeister ("Ja, wir schaffen das!") stammt von hier und ging in die Welt. Nach ersten Ausflügen in die Charts mit schmissigem und unwiderstehlichem Synthiepop und Trips nach London und New York kamen die Verlockungen der Metropolen: Geld, Drogen, Frauen, Rock'n'Roll. Drei-Tage-wach, Sonnenbrillen, schwarzes Leder und klobiger Totenkopfschmuck aus Silber. Boomer mit der Tendenz zum wilden Leben lieben Totenkopfschmuck. Selbst Zeitzeuge Dominic Heinzl trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem Totenkopf aus Glitzersteinen. Im Video zu Ghosts Again dienen Totenköpfe aus Silber als Knäufe für die Gehstöcke von Gore und Gahan.

DepecheModeVEVO

Dank Einflüssen von Firmenkollegen auf Depeche Modes früherem Label Mute Records wie den Einstürzenden Neubauten, The Normal, Nick Cave, Wire, Nitzer Ebb oder Renegade Soundwave wuchsen sie bald zu den Königen des dunklen, melancholischen und stets schwarz gekleideten Pop heran. Bis heute haben Depeche Mode mehr als 100 Millionen Tonträger verkauft. Aufgrund der Erweiterung der synthetisch erzeugten Popmusik um die breitbeinigen Posen der vom schmerzensreichen Blues kommenden Rockmusik und einer dazugehörigen, in die breite Masse gehenden elektrischen Gitarre eroberten sie bis heute auch die Sportstadien der USA.

Ende der 1990er-Jahre, nach einer Überdosis und Nahtoderfahrung von Sänger Dave Gahan und dem Album Ultra, begann die Musik Depeche Modes bei gleichbleibendem Erfolg, vor allem in Deutschland, etwas weniger zwingend zu werden. Zuletzt war etwa auf den Arbeiten Delta Machine oder Spirit sehr oft Routine zu hören. Der Mensch aber, so Ingmar Bergman im Geleitwort zu Das Siebente Siegel, sucht ewig nach Gott und hat doch nur den Tod als einzige Gewissheit vor Augen.

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Die zwölf Songs von Memento Mori schließen, noch vor dem Tod von Andrew Fletcher in Angriff genommen, teilweise wieder an die alte Dringlichkeit der Band an. Der Eröffnungssong, My Cosmos Is Mine, klingt in seinem Weltschmerz und in Anspielung auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine geradezu bedrückend aktuell. Bratzende, knarzende und zischende elektronische Störgeräusche und ein magensäurefördernder Basslauf im mittleren Tempobereich, dazu ein technoider Rhythmus und ein tief im Hallraum eingebettetes Mantra "No fear, no fear, no fear" versuchen die kleine heile Welt unter einer dicken Schutzschicht am Laufen zu halten. Ein früher Höhepunkt des Albums.

Dem Affen Zucker geben

Für Wagging Tongues wurden alte Klänge von Kraftwerk aus Europa Endlos ausgepackt. Die Welt ist trotzdem nicht gut eingerichtet: "Watch another angel die." Nachdenklich wird auch in Songs wie dem elektronischen Boogie von Don’t Say You Love Me getanzt: "You are the singer, I am the song." Der pumpende Rocker My Favourite Stranger geht als Hausmarke durch. Dessen etwas banale Schulgitarren-Akkordfolge wird in den Dark-Wave-Discos dieser Welt für volle Tanzflächen sorgen. In Soul With Me gibt statt Dave Gahan Martin Gore den Crooner zu verhallten Kirchenorgelklängen. Caroline’s Monkey und der aus der Meditationstechnik berühmte Affe, dem man nie Zucker geben darf, wird mit Suchtproblematik kurzgeschlossen. Der Affe ist hungrig, er verlangt nach der Nadel und seinen Pillen.

Leider fehlen auch 2023 die herzerweiternden Melodien, die Depeche Mode einst groß machten. Am Ende folgt in der elegischen Ballade Speak To Me die Himmelfahrt im Land des Dröhnens. In Österreich gastieren Depeche Mode am 21. Juli im Wörthersee-Stadion in Klagenfurt. Es werden wohl die alten Hits im Mittelpunkt stehen. Der Tod steht ihnen gut. (Christian Schachinger, 23.3.2023)