Ferrari zeigt sich heute in Madonna und der Welt ganz ungeniert viertürig und gerne auch einmal vollkommen blau.
Foto: Ferrari

Dem gemeinen Skisport-Nostalgiker überkommt bei einem Abstecher in das einstige Wohnzimmer von "La Bomba" immer noch eine gehörige Portion Ehrfurcht. Damals, als der alpine Rennsport noch rau war und abseits der Rennpiste die Jetset-Luft prickelte wie der Schampus in den Gläsern. Vorbei an einem Transparent "Zuerst schuf Gott den Schnee, dann schuf er Tomba und sagte: Gehe hinaus und gewinne" raste Alberto Tomba im Dezember 1995 an seinem 29. Geburtstag in Madonna di Campiglio zum 30. Slalomtriumph. "Mein größter Sieg!", verkündete der Carabiniere aus Bologna nach dem Abschwung auf der Canalone Miramonti. Und entschwand mit der damaligen Miss Italien im knallroten Ferrari.

Power ohne Stecker

28 Jahre später stehen die Zeichen auf Veränderung: Man steigt zwar in dem kleinen Ort in den Brenta-Dolomiten immer noch gerne in die Bindung, doch die Rennexzentrik ist mit Alberto Tomba längst in Ski-Pension gegangen – und Ferrari zeigt sich heute in Madonna und der Welt ganz ungeniert viertürig und gerne auch einmal vollkommen blau.

Im September des Vorjahres hat die Edelschmiede in Maranello die Stalltüren für ein gleichwohl langersehntes wie umstrittenes Modell geöffnet. Mit dem Ferrari Purosangue wagte man sich in der Sportwagenschmiede auf völlig neues Terrain und erweiterte die Herde der springenden Pferde um einen Luxus-Crossover mit erstmals vier Türen. Und damit folgerichtig erstmals vier Sitzplätzen. Unter der Haube hat man mit einem V12-Saugmotor, der als Frontmittelmotor angelegt ist, gewohnt in die Vollen gegriffen. 725 PS garantieren eine Erlebnisfahrt für die ganze Familie. In 3,3 Sekunden von null auf 100 km/h und in 10,6 Sekunden von null auf 200 km/h. Bissige Keramikbremsen sorgen aber für eine rechtzeitige Temporeduktion vor der Abzweigung zum Kindergarten.

Die immerhin 4,97 Meter Länge und vor allem die 2033 kg Leergewicht sieht man ihm, dem schnittigen Design sei’s gedankt, auf den ersten Blick kaum an. Man hat – mit den dominant modellierten Radhäusern, einem flach nach hinten abfallenden Dach, einem mit 3018 mm überschaubaren Radstand und vor allem einer enorm langen Front – einer oft monströsen SUV-Erscheinung eine Absage erteilt und setzt auf einen grazil erscheinenden Edelboliden.

Wenig Überblick

Den Weg ins luxuriöse Innere ebnen vollelektrisch zwei hinten angeschlagene Türen. Hat man einmal sein Hinterteil auf feinstem Leder platziert, fehlt zunächst der Überblick. Fast verzweifelt klammert man sich als Fahrer angesichts der (Über-)Fülle an Drück-wisch-dreh-Möglichkeiten an die altbekannten Ferrari-Ankerpunkte wie den Manettino-Schalter rechts und den knallroten Startknopf mittig auf dem Lenkrad.

Doch zumindest ist man mit der technischen Überladung – ja, selbst das Einstellen von Außenspiegeln kann zur mehrminütigen Herausforderung werden, der man besser nicht während der Fahrt entgegentritt – nicht alleine. Das Fahrercockpit wird nämlich fast eins zu eins auf der Beifahrerseite gespiegelt. Geschaffen werden soll mittels 10,2-Zoll-Display eine "emotionale Einbindung" des Beifahrers. Man muss nach dem Praxistest sagen, es funktioniert. Schön, wenn man mit Problemen nicht ganz allein ist.

Ferrari Purosangue
Preis: 587.745 €,
V12-Zylinder, 6496 cm³, 533 kW (725 PS), 716 Nm, 8-Gang-F1-Doppelkupplungsgetriebe, Allradantrieb; Beschleunigung: 3,3 sec 0–100 km/h, 10,6 sec 0–200 km/h, Höchstgeschwindigkeit: 310 km/h Verbrauch: 17,1 l / 100 km, CO2: 369 g/km; L/B/H: 497/203/159 cm, Radstand: 302 cm, Kofferraum: 473 l, Leergewicht: 2033 kg
Foto: Ferrari

Rein platzmäßig bietet der Purosangue für alle menschlichen Höhen und Breiten zumindest im vorderen Bereich ausreichend Platz. Im Heck wird es da schon deutlicher kuscheliger. Doch Hand aufs Herz: Wer nimmt in so einem Auto freiwillig hinten Platz? Denn um den vielen Pferden so richtig die Sporen zu geben, braucht es die Poleposition. Und den Druck auf den roten Knopf. Der Zwölfzylinder brüllt, der Ski-Ort jubiliert. Alberto – ich will doch kein Kind von dir.

Intelligentes Fahrwerk

Mit einer unglaublichen Leichtigkeit galoppiert das "Vollblut" auf 22-Zöllern an der Vorder- und 23-Zöllern an der Hinterachse über die Straße. Weder das doch beachtliche Gewicht noch die Länge wirken sich auf die Fahrdynamik aus. Geschmeidig wird jede Kurve auch bei höherem Tempo geschluckt. Dem Fahrer bleibt trotzdem stets die Wahl: Wer es auf der Fahrt durch die malerische Bergwelt der Dolomiten gerne gemütlicher angeht, bleibt im Komfortmodus. Wer es lieber knackig mag und gewillt ist, dass sich der Beifahrer im Fall der Fälle nochmals das Frühstück durch den Kopf gehen lässt, drehe getrost am Manettino-Rad.

Aber egal in welchem Fahrmodus: Ein spürbares Highlight ist das neu konzipierte aktive Fahrwerk. Dafür hat Ferrari ein 48-Volt-Bordnetz verbaut, womit sich nicht nur die Härte der Dämpfer verstellen, sondern aktiv Kraft ins System einspeisen lässt. Komponenten können so in Echtzeit situationsgerecht und schnell konditioniert werden.

Letztlich ist mit dem Purosangue der Spagat gelungen: Das Sportwagengefühl ist geblieben, Geländetauglichkeit ist dazugekommen, und für die Oma und die Kinder ist auf dem Rücksitz Platz. Einzig eine Anhängerkupplung fehlt für die Fahrt in den Campingurlaub. (Markus Rohrhofer, 28.3.2023)