Ein Esa-Basislager auf dem Mond? Ein Expertengremium will die Debatte über Europas Raumfahrtkapazitäten anstoßen.

Illustration: Esa

Im Weltraum herrscht Aufbruchstimmung – und Europa droht den Anschluss zu verlieren. Davor warnen unabhängige Expertinnen und Experten in einem Bericht für die Europäische Weltraumorganisation (Esa), der am Donnerstag veröffentlicht wurde. Europa müsse sich im All unabhängiger machen und deutlich mehr in die Raumfahrt investieren, heißt es in dem Dokument, das im Rahmen der jüngsten Sitzung des Esa-Rats in Paris vorgestellt wurde. Andernfalls müssten nicht nur wirtschaftliche und wissenschaftliche Konsequenzen hingenommen werden, auch politische Abhängigkeiten und Sicherheitsrisiken würden sich mehren.

Während neueste Teleskope und künstliche Intelligenz die astronomische Forschung beflügeln und die astronautische Raumfahrt nach Jahrzehnten des Stillstands frischen Aufwind erhält, entwickelt sich das All zu einem schnell wachsenden Wirtschaftsfaktor. Auf rund 400 Milliarden Euro wird das Volumen der Weltraumwirtschaft aktuell geschätzt, bis 2040 könnte es eine Billion überschreiten. Um wettbewerbsfähig zu sein und Sicherheitsrisiken zu minimieren, müsse Europa den Weltraumsektor umorganisieren und deutlich mehr Geld investieren, schreiben die Mitglieder der High Level Advisory Group, die Vorschläge für die Zukunft der Esa ausgearbeitet hat. Der Auftrag zu einer unabhängigen Bewertung kam vom Esa-Rat, dem Lenkungsgremium der Organisation, in dem alle Esa-Mitgliedsstaaten mit einer Stimme vertreten sind.

Fehlende Kapazitäten, riskante Abhängigkeit

Zu den Autorinnen und Autoren des Berichts zählen unter anderem die ehemalige italienische Wissenschaftsministerin Stefania Giannini, Ex-Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und die Leiterin der schwedischen Weltraumagentur Anna Rathsman. Mit der Nationalratsabgeordneten und ÖVP-Bereichssprecherin für Weltraumforschung Maria Theresia Niss ist auch eine Österreicherin in der Gruppe vertreten. Europa müsse sich entscheiden, ob man künftig Zuschauer oder Kunde im Weltraum sein wolle – oder ob man selbst eine führende Rolle spielen wolle, schreibt die Gruppe. Die Empfehlung fällt klar für letztere Option aus: "Die Kosten der Untätigkeit wären bei weitem höher als die notwendigen Investitionen, um Europa als starken und unabhängigen Weltraumakteur zu etablieren."

Konkret wird unter anderem empfohlen, eigene Kapazitäten zur Beförderung von Menschen ins All zu entwickeln sowie eine unabhängige europäische Präsenz in der Erdumlaufbahn sowie um und auf dem Mond zu schaffen. Die Esa habe sich in den vergangenen Jahren mit wissenschaftlicher Weltraumforschung ausgezeichnet und nehme insbesondere bei der Erdbeobachtung eine herausragende Rolle ein. Doch anstatt umfassende eigene Kapazitäten im Bereich der Weltraumerkundung aufzubauen, habe man in den vergangenen Jahrzehnten die Rolle des Juniorpartners der US-Weltraumbehörde Nasa und der russischen Agentur Roskosmos übernommen. Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine und dem Ende der Zusammenarbeit mit Russland im All seien die Risiken und Kosten solcher Abhängigkeiten drastisch sichtbar geworden.

"Weckruf für die Politik"

Im Wettrennen zwischen den USA und der ambitionierten Weltraummacht China sowie vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kommerzialisierung der Raumfahrt stehe Europa an einem Scheideweg, heißt es in dem Bericht weiter. Die rasante Zunahme an Weltraumaktivitäten und das Verhalten mancher Akteure – sowohl staatlicher wie auch privater – müssten ein Weckruf sein.

Die Erforschung und Nutzung des Weltraums müsse gemeinwohlorientiert sein, Europa könne mit einem wertebasierten Zugang dazu beitragen, einen "Wilden Westen im Weltall" zu vermeiden, sagte Stefania Giannini. Anders Fogh Rasmussen plädierte dafür, "mutig zu sein" und "Europa an die Spitze der Weltraumforschung zu setzen". Neben mehr öffentlichem Geld brauche es aber auch ein neues Beschaffungsmodell, das den privaten Weltraumsektor in Europa stärker ankurbelt.

Esa-Generaldirektor Josef Aschbacher begrüßte den Bericht und sprach von einem "Weckruf" für die Politik. "Wir dürfen nicht zulassen, dass der Zugang zum Weltraum ein Bereich wird, in dem es Europa an Fachwissen und Führungsfähigkeiten fehlt." Die Empfehlungen der Expertengruppe sollen nun von einer Arbeitsgruppe evaluiert und beim nächsten Weltraumgipfel der Esa im November diskutiert werden. (David Rennert, 23.3.2023)