Quasi die Stimme der Nation: Chris Lohner.

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Manchmal, aber wirklich nur manchmal, redet Chris Lohner wirres Zeug. Dann sagt sie seltsame Sätze. Oder besser: Satzzeichen. Das klingt dann in etwa so: "Sehr geehrte Fahrgäste, Rufzeichen, derzeit kommt es auf …" Hin und wieder rutscht ihr auch ein gesprochener "Doppelpunkt" heraus. Oder sie sagt "Komma". Aber weil es dann ganz normal informativ weitergeht, fällt das so gut wie niemandem auf. Weil die Menschen, zu denen die einstige ORF-Programmansagerin da spricht, nicht nach "Hoppalas" suchen, sondern auf das achten, was Chris Lohner ihnen tatsächlich, inhaltlich, vermittelt. Täglich tausende Male. Auf so gut wie jedem Bahnsteig Österreichs. In fast jedem Zug der ÖBB.

Chris Lohner tut das seit über 40 Jahren. Seit 44 Jahren, seit 1979, ist die TV-Ikone die Stimme der ÖBB. Sagt an, was man in einer Bahnhofshalle, in einem Zug, auf einem Bahnsteig ansagen kann: Stationen und Halte, Abfahrt- und Ankunftszeiten, aber auch Verspätungen, Störungen und Ausfälle.

Da kann es hin und wieder vorkommen, dass Chris Lohner ein gesprochenes "Rufzeichen" über die Lippen kommt. Dass einer oder eine der österreichweit acht (vier in Wien für die Ostregion, vier weitere für den weit weniger stark befahrenen Rest Österreichs) für Fahrgastinformationen der ÖBB zuständigen Kolleginnen versehentlich ein Leerzeichen zwischen Lohners letztem gesprochenen Buchstaben und dem Satzzeichen gemacht hat.

Die digitalisierte Lohner

Weil es aber niemandem auffällt, wenn Chris Lohner Satzzeichen ausspricht, denkt auch kaum jemand je darüber nach, wie solche Informationen und ihre Stimme zusammenkommen. Dass die Schauspielerin, Buchautorin und Frauenrechtsaktivistin nicht irgendwo in einem Kammerl der ÖBB-Zentrale beim Wiener Hauptbahnhof sitzt und tagein, tagaus "live" plaudert, ist wohl jedem klar. Da wird es wohl einen gigantischen "Setzkasten" an eingesprochenen Stationen, Zeiten, Destinationen und Bahnsteigen geben, aus denen dann Ansagen gemacht werden. Nur: Wieso würde man da einen Doppelpunkt als "Doppelpunkt" einsprechen?

Chris Lohner lacht. Das tut sie gern und oft. Lachen, sagt sie, sei wichtig – für die Seele. Für die Psychohygiene. Egal, wie konfus, chaotisch und eigentlich zum Verzweifeln die Welt sich dreht. Als Sprecherin, betont sie, sei sie aber Profi: "Wenn man mir sagt, ich soll emotionslos sprechen, tue ich das." Genau das hat sie im Juli 2015 einen ganzen Monat lang gemacht. "Fast bis zum Kreislaufkollaps: Ich stand in diesem Tonstudio und habe 15.000 Sätze eingesprochen. Auf Englisch und Deutsch." Aber vor allem: "Vollkommen sinnlose Sätze. Sätze wie 'Merkel kauft in Paris ein.'" Dass das digitale Text-to-Speech-Tool der ÖBB aus diesen 15.000 Sätzen Worte, Silben und Laute so herausdestillieren können würde, dass seit 2016 tatsächlich fast ausschließlich "die synthetische Lohner" spricht, verwundert sie sogar heute noch ein bisserl: "Ich hab mir das dann am Bahnhof sehr genau angehört: Mein digitalisiertes Ich macht das gar nicht schlecht." Und zwar unabhängig davon, ob fixe, immer wiederkehrende Textelemente verwendet werden oder ein Fahrdienstleiter oder eine Fahrdienstleiterin wegen einer nichtstandardisierten Situation im stillen Kämmerlein in die Tasten greift – und Chris Lohner eine Sonderdurchsage machen lässt. Möglich wäre theoretisch alles: Muttertagsgedichte, Wetterbericht, Witze oder Bibelzitate. Aber derlei, betont der zuständige Fahrdienstleiter Martin Fuchsbauer, widerspreche nicht nur seinem Dienstauftrag, sondern auch seiner Vorstellung von Kundenservice: "Die Leute verlassen sich auf uns."

Keine Zeit für Launigkeit

Dass es weder Faschings- noch anderswie "launige" Ansagen je geben wird, betont auch Daniel Pinka. Dafür, so der ÖBB-Sprecher, sei nicht nur das Tool, mit dem da gearbeitet wird, sondern auch das Thema zu wichtig: Mit der Verlässlichkeit von Fahrgastinformationen steht und fällt die Glaubwürdigkeit eines Verkehrsunternehmens, erklärt Pinka. Solange die Züge nach Plan fahren, genügt ein kurzer Blick auf Anzeigetafeln und ein halbes Ohr auf die Durchsagen, um sicher unterwegs zu sein. Bei Abweichungen hätte dann niemand Sinn für Jux und Tollerei.

Wie viel Technik, Man- und Womanpower hinter Reiseinformationen steckt, interessiert unterwegs niemanden. Ebenso wenig, wie viel Hirnschmalz, Marktforschung respektive Kundenkunde investiert werden muss, um Displaytexte und -Layouts möglichst selbsterklärend zu gestalten. Wenn Pinka bei einem – ohnehin für Laien verständlich vereinfachten – kurzen "Exkurs zur Betriebsführung" die "automatisierten Informationsketten" erläutert, über die das "Automatisierte Reisenden-Informationssystem", kurz AURIS, mit "statischen Daten" (etwa den Jahresfahrplänen), aber auch Wagenreihungs- und anderen "dynamischen" Parametern gefüttert wird, schlackern Nicht-Insiderinnen und -Insidern rasch die Ohren. Und wer nach diesem Exkurs versucht, dieses bisher nie bewusst mitgedachte Hintergrundwissen beim Studium der Anzeigetafeln am Bahnhof auch zu beachten, wird eventuell eine erstaunliche Erfahrung machen: Selbstverständliches, Gewohntes und Internalisiertes und meist nie Hinterfragtes wird komplex, sobald man die Prozesse dahinter mitdenkt. Das sorgt für Unruhe im automatisierten Ablauf – und Irritation macht anfällig für Fehler. Simpelstes Beispiel: Gehen. Wer bei jedem Schritt über jede Bewegung der Füße nachdenkt, kann sich kaum auf den Weg konzentrieren – und wird eher stolpern.

Die Fahrtbegleiterin

Unabhängig davon, was Chris Lohner den Kunden der ÖBB sagt, steht ihre Stimme für das Unternehmen. Und damit für das Bahnfahren an sich: Lohner ist es, die täglich hunderttausende Pendlerinnen und Pendler in der Früh zur Arbeit und am Abend wieder heim begleitet. Für mehr als eine Generation von Erwerbstätigen, für zwei bis drei Schülergenerationen ist Bahnfahren gleichbedeutend mit der Stimme von Chris Lohner: Sie haben es nie anders erlebt. Und wer mit Fernzügen unterwegs ist, aus dem Ausland zurück nach Österreich kommt, erlebt sie als Stimme von "daheim". Seit jeher – und die Älteren (er)kennen sie sogar noch aus dem Fernsehen.

Das ist wichtig. Weil es Identität stiftet. Wie sehr Chris Lohner für die Bahnkundinnen und Bahnkunden (aber auch für viele ÖBB-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter) für die ÖBB, für Bahnmobilität in Österreich steht, war lange weder ihr noch ihren Auftraggebern bewusst. Vermutlich auch den meisten Bahnfahrenden nicht – bis es plötzlich anders war: 2008 testeten die ÖBB erstmals ein automatisiertes Text-to-Speech-System (TTS), eine rein synthetische Stimme. Der Übergang zu dieser "Petra" genannten Kunststimme hätte fließend und langsam verlaufen sollen. Doch die Bahn hatte die Rechnung ohne ihre Fahrgäste gemacht: Das Publikum spielte nicht mit.

Hätte es das Wort um 2010 schon gegeben, wäre "Mega-Shitstorm" die probate Beschreibung gewesen für das, was da losbrach – und nicht abebben wollte. Eine der da nicht immer nur höflich Behelligten war Chris Lohner selbst. Eigentlich, im Nachhinein, logisch: Lohners charakteristischen Rotschopf erkennt man – die Gesichter (und Stimmen) von Managern und Vorständen nicht. "Ich bin zu dieser Zeit zwischen dem Salzburger Landestheater und Wien gependelt. Mit der Bahn. Und jedes Mal haben sich Leute bei mir bitter beschwert, wieso ich sie mit dieser 'Petra aus Kottbus' alleine lasse", sagt Lohner.

15.000 Sätze

Der Seitensprung war nicht von Dauer: Eine Zeitlang fuhr die Bahn zwar noch zweigleisig, doch 2015 kehrte das Unternehmen dann endgültig und ausschließlich zur Stimme von Chris Lohner zurück. Lohner verbrachte einen Monat im Tonstudio, sprach 15.000 Sätze ein, von denen "Merkel kauft in Paris ein" noch zu den sinnvollsten zählte. Ihre nun hochoffiziell "Corporate Voice" genannte Stimme, schmunzelt die mit Theater- und Kabarettprogrammen immer noch hochaktive Frau, stehe den ÖBB zeitlich und inhaltlich unbefristet zur Verfügung.

Heuer im Sommer wird Chris Lohner 80 Jahre alt. Dass ihr innerhalb des Konzerns schon länger Adjektiva wie "unsterblich" und "ewig" zugeschrieben werden, stört sie überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: "Das ist doch etwas Schönes! Das ist ein Kompliment – und ich bin stolz darauf." Nur eines, betont sie, habe sie sich ausbedungen: "Ansagen wie 'Bitte die Spülung betätigen', die wird es von mir nie geben." (Tom Rottenberg, 24.3.2023)