Horrorfilme spielen mit dem Angstmechanismus. Wir fürchten uns, aber diese fiktive Angst wird im Frontalhirn korrigiert. Deshalb ist uns im Normalfall klar: Es besteht keine Gefahr.

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Ein unheimlicher Clown ermordet in einer Kleinstadt mehrere Kinder. Andere werden vermisst. Die sieben Freunde, die entkommen können, glauben, das Böse besiegt zu haben. Doch 30 Jahre nach den grausamen Ereignissen taucht an einem Tatort ein Bild auf, das das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ist "Es" zurück?

Bis heute ist Stephen Kings "Es" einer der beliebtesten Horrorfilme, treibt mutigen Zuseherinnen und Zusehern Schweißperlen auf die Stirn und den Puls in die Höhe. Kein besonders angenehmes Gefühl, würde man meinen – die Angst. Dabei kann sie ein mächtiger Motor für Weiterentwicklung, Veränderung und Selbstakzeptanz sein, findet die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Constanze Dennig. Wir haben nur verlernt, wie das geht.

STANDARD: Angst wollen die meisten rasch loswerden. Sie heißen sie in ihrem neuen Buch willkommen. Warum?

Dennig: Ich bin in den vergangenen Jahren ein bisschen wütend geworden. Durch die multiplen Krisen wurde das Thema Angst medial extrem hochgespielt, es war fast schon eine Panikmache. Also habe ich mir die Hintergründe von Angst angesehen, ein Buch über die andere Seite von Angst geschrieben, ich zeige, dass Angst nicht immer etwas Pathologisches, Krankhaftes ist. Es ist wichtig, zwischen einer pathologischen und einer realistischen Angst zu unterscheiden. Ich will das an einem Beispiel erklären: Wenn ich ständig Angst habe, dass ich Krebs bekomme, obwohl nichts darauf hinweist, dann wird das irgendwann einmal krankhaft sein. Wenn ich aber ein Röntgenbild habe, auf dem ein Herd zu sehen ist, dann habe ich eine berechtigte Angst.

STANDARD: Aber die Ängste in den vergangenen Jahren waren beziehungsweise sind doch auch durchaus berechtigt. Corona, Krieg, Teuerung, die multiplen Krisen sind ja real.

Dennig: Ja, die Ängste sind berechtigt, aber sie sollten auch relativiert werden. Es herrscht eine Art Weltuntergangsstimmung, die meiner Meinung nach trotz aller Katastrophen nicht der Realität entspricht. Der Menschheit ist es noch nie so gutgegangen wie jetzt. Wir sind noch nie so alt geworden, wir hatten in Relation zur Weltbevölkerung noch nie so wenig kriegerische Auseinandersetzungen. Genau das müsste den Menschen auch einmal vermittelt werden, nicht nur "Ihr müsst Angst haben!", sondern auch "Ihr seid stark!". Denn das sind wir Menschen, wir sind stark. Die Menschen sind sehr stark, sonst wären wir nicht so viele geworden.

Wir haben als Gesellschaft verlernt, mit Angst umzugehen, glaubt Constanze Dennig.
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STANDARD: Hat die Angst aber auch positive Seiten?

Dennig: Auf jeden Fall, Angst ist ein biologisches Überlebensprinzip. Ohne Angst würden wir und alle Säugetiere nicht überleben, die Zivilisation würde zusammenbrechen. Aber den Menschen unterscheidet vom Tier, dass er sich zukünftige Katastrophen vorstellen kann. Er kann sich die Katastrophe ausmalen und hat Angst, bevor sie überhaupt eintritt. Die fiktive Vorstellung macht uns schon Angst, während Tiere nur unmittelbar Angst haben. Die Maus fürchtet sich nicht schon im Vorhinein, dass die Katze in 14 Tagen vor ihrem Loch sitzen könnte. Der Mensch macht aber genau das.

Die Vorstellung eines furchteinflößenden Ereignisses bringt uns deshalb dazu, Versuche zu starten, wie man dieses Ereignis abwenden kann. Das beginnt bei ganz banalen Dingen: Warum putzen wir uns in der Früh die Zähne? Weil wir Angst vor Karies haben. Wir versuchen ständig, Strategien zu entwickeln, um Auswirkungen von unserer Angst zu vermeiden. Unser Zusammenleben funktioniert durch die Vermeidung eines befürchteten Ereignisses. Jedes Gesetz, jede Versicherung, jeder Gurt im Auto, alles dient der Vermeidung von Angst. Insofern halte ich Angst für etwas Positives, weil sie unser gesellschaftliches Zusammenleben erleichtert.

STANDARD: Trotzdem sagen Sie, dass Sie der gesellschaftliche Umgang mit Angst während Corona wütend gemacht habe. Sie finden also, wir waren zu ängstlich, verstehe ich das richtig?

Dennig: Nun ja, ich denke, dass Berichterstattungen zu weit greifen. Man liest, dass bei Jugendlichen während Corona die Angststörungen so zugenommen haben. Es wurde ihnen aber auch ständig vor Augen geführt, dass sie Angst haben sollen. Es ist kaum jemals die Botschaft rübergekommen: Ihr seid tough, ihr werdet das packen. Diese Botschaft hat es nicht gegeben. Es wurde übermittelt: Ihr seid schwach, ihr seid krank. Dementsprechend reagiert dann auch eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft kann nur dann widerstandsfähig sein, wenn sie nicht entmutigt wird.

STANDARD: Gleichzeitig sprechen viele seit Corona offener über ihre Ängste, das Thema ist nicht mehr so schambehaftet. Eine gute Entwicklung, finden die meisten Psychologinnen und Psychotherapeuten. Sie auch?

Dennig: Darüber sprechen finde ich gut. Aber man sollte nicht jedes Gefühl in die Angstschublade stecken. Es muss auch nicht jede Art von Angst pathologisiert werden. Die ist ja keine Krankheit. Und Ängste sollten immer vom Verstand überprüft werden, ob sie berechtigt sind. Wenn ich etwa Angst habe, dass meine Kinder auf dem Weg in die Schule überfahren werden, kann ich mir anschauen, wie viele Kinder jährlich in Wien auf dem Schulweg tödlich verunglücken. Und wie viele Kinder bewältigen jeden Tag den Schulweg unversehrt? Dann merkt man schnell: Das ist nahezu so unwahrscheinlich, wie dass mir ein Ziegel auf den Kopf fällt.

Constanze Dennig, "Willkommen Angst. Vom Nutzen der Furcht", € 24,– / 160 Seiten, Ueberreuter-Verlag, Wien 2023

STANDARD: Wir gruseln uns auch bei Krimis oder völlig unrealistischen Filmszenen, obwohl wir wissen, dass keine Gefahr für uns besteht. Warum ist das so?

Dennig: Das hat mit der Vorstellungskraft durch unsere Angst zu tun. Das Gehirn tut sich schwer, zwischen Realität und Vorstellung zu unterscheiden. Deshalb fürchten wir uns auch so oft vor Dingen, für die es statistisch keine Rechtfertigung gibt. In Filmen passiert genau das. Die Korrektur einer fiktiven Angst findet im Frontalhirn statt, das ist sozusagen der Verstand, der sagt: Das ist ein Film, das ist alles gespielt, und das ist kein Blut, sondern nur rote Farbe.

Aber bevor diese Korrektur stattfinden kann, wird im Gehirn schon die Angstreaktion hervorgerufen, es werden schon entsprechende Hormone ausgeschüttet. Das ist etwas, das wir mit anderen Säugetieren gemein haben. Denken Sie an ein Pferd, das vor einem Blatt, das sich im Wind kräuselt, zurückschreckt. Warum sollte sich ein riesiges Pferd vor einem kleinen Blatt fürchten? Das ist eine ähnlich geringe Gefahr wie ein Horrorfilm für den Menschen. Trotzdem löst so ein Reiz in unserem Gehirn Angst aus, und es werden Neurotransmitter ausgeschüttet, die dem Hirn simulieren, dass Gefahr besteht.

Dasselbe passiert bei pathologischen, also krankhaften Angstzuständen, zum Beispiel bei Panikattacken. Der Auslöser dieser Reize ist meistens unbekannt, das kann alles Mögliche sein, Gerüche, Farben, Bilder. Betroffene wissen oft nicht, warum sie plötzlich panisch sind. Das ist dann wie beim Pferd, man fürchtet sich, weiß aber nicht wovor.

STANDARD: Zahlreiche Langzeitstudien kommen alle zu einer zentralen Aussage: Es entscheidet sich schon im Babyalter, ob man ängstlich oder weniger ängstlich ist. Wie kommt es, dass Angst manche motiviert und andere erstarren lässt?

Dennig: Ja, die Neigung, ob man eher Angst hat oder nicht, ist bis zu einem gewissen Grad genetisch festgelegt. Nicht aber, wie man später damit umgeht, das ist eine Frage des sozialen Umfelds, der Erziehung und davon, welche Erfahrungen ich gemacht habe. Der Umgang mit Angst wird erlernt. Und hier bin ich große Verfechterin des Nichtgrübelns.

STANDARD: Nicht zu grübeln ist leichter gesagt als getan. Hat jemand Angst vor etwas, wird es wohl wenig helfen, wenn man rät: "Denk doch einfach ein bisschen weniger nach!"

Dennig: Das stimmt, aber da hilft es, unser Gehirn besser zu verstehen. Das ist physiologisch gesehen kein Multitasker, es kann sich nicht mit zwei Dingen gleichzeitig beschäftigen. Nehmen wir an, Sie haben Angst vor einer anstehenden Prüfung. Plötzlich ruft ihre Mutter an und sagt Ihnen, dass sie ins Krankenhaus gebracht wurde und sie ihr ein Nachthemd vorbeibringen müssen. Die Prüfungsangst ist wie weggewischt. Angst kann jederzeit mit einem anderen Ereignis überschrieben werden.

STANDARD: Mit einem noch schlimmeren Ereignis? Wenn man sich zwischen Prüfungsangst und Krankenhausaufenthalt der Mutter entscheiden kann, nehmen wohl die meisten Ersteres.

Dennig: Nein, es kann auch viel banaler sein. Es kann auch jemand anrufen, von dem Sie lange nichts gehört haben, oder eine Freundin, die Ihnen erzählt, dass sie sich verliebt hat, oder Ähnliches. Was ich sagen will, ist, im Sinne der Angstbekämpfung ist es sinnvoll, das Gehirn abzulenken.

STANDARD: Womit klappt das am besten?

Dennig: Die beste Angstbekämpfung ist körperliche Erschöpfung, denn dazu ist Angst da. Neurotransmitter signalisieren dem Körper, sich auf Verausgabung einzustellen, weil Angst ja dazu dient, zu überleben, also vor etwas davonzulaufen oder zu kämpfen. Das heißt, man kann nicht gleichzeitig körperlich erschöpft sein und Panik haben, das geht einfach nicht. Man kann das Gehirn aber auch mit etwas anderem beschäftigen, das herausfordernd ist. Da reicht manchmal schon ein Kreuzworträtsel. Wir müssen also immer etwas machen, wofür die Angst eigentlich gebraucht wird, das Gehirn vereinnahmen und uns erschöpfen.

STANDARD: Also sollen wir die Ängste nun willkommen heißen oder versuchen, sie zu überwinden und im Gehirn mit etwas anderem zu überschreiben?

Dennig: Beides. Wir sollten sie einladen und sie dann aber relativieren. Wie sehr ist die Angst auch berechtigt? Was bringt sie mir? Da rede ich aber nicht von einer pathologischen Angst, sondern von jener, die jeder Mensch hat. Gleichzeitig möchte ich schon auch die Überwindung propagieren, dass man sich nicht in die Angst hineinfallen lässt, sondern sich motiviert und versucht, einen Weg aus der schwierigen Situation zu finden. Denn die Überwindung von Angst macht glücklich, aber das gelingt eben nur, wenn man sie in einem ersten Schritt willkommen heißt. (Magdalena Pötsch, 25.3.2023)