Zu den Absurditäten der Debatten über "den" Islam gehört es, dass seine Kritikerinnen und Kritiker – wie etwa Thilo Sarrazin – oft ähnlichen Denkmustern verfallen wie Salafisten, islamische Fundamentalisten oder Jihadisten: Sie glauben an ein Wesen des Islam und sind Literalisten. Sie sind überzeugt, dass die Texte des Koran eine eindeutige, wörtlich zu verstehende Bedeutung hätten.

Hamed Abdel-Samad distanziert sich von diesen Interpretationsansätzen, aber auch von den üblichen Narrativen und Klischees. Die Geschichte des Islam solle weder als Heilsgeschichte (wozu gläubige Muslime neigen) noch als Geschichte "von Aggression, Eroberung und Blutvergießen" gelesen werden. Er plädiert für einen genuin historischen Ansatz, wo die Geschichte des Islam auch "Ergebnis historischer Prozesse und Umwälzungen" ist, "die sich nicht losgelöst von, sondern aus einer Interaktion mit dem Weltgeschehen entwickelt haben".

Lebt seit seiner Fatwa und Todesdrohungen in Deutschland unter permanentem Polizeischutz: Hamed Abdel-Samad.
Foto: CK Fotografie / Droemer Knaur

Diese Historisierung hält Abdel-Samad fast vollständig durch. Er distanziert sich damit von seinen eigenen früheren Publikationen, in denen er etwa behauptet hatte, dass eine Reform des Islam unmöglich sei. "Weil auch ich von der Religion und ihren Texten ausgegangen bin, was ich aus heutiger Sicht als Fehler betrachte." Nun kommen die Gläubigen in den Blick, nämlich was sie aus diesen Texten in ihren jeweiligen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kontexten gemacht haben.

Differenzierungen

Abdel-Samad orientiert sich am taciteischen "sine ira et studio" ("Ohne Zorn und Eifer"), auch wenn er aufgrund seiner Biografie einige Gründe hätte, auf Kultur und Religion seines Vaterlandes weiterhin mit Aversionen zu reagieren (siehe Mein Abschied vom Himmel, Knaur 2009). 1972 in Ägypten geboren, lebt Abdel-Samad seit einer Fatwa und Todesdrohungen im Jahr 2013 unter permanentem Polizeischutz in Deutschland.

Hamed Abdel- Samad, "Islam. Eine kritische Geschichte". € 24,70 / 320 Seiten. dtv, München 2023
Cover: dtv

Am Buch überzeugt vor allem Abdel-Samads Fähigkeit, differenziert zu denken. Die Kreuzzüge werden genauso differenziert dargestellt wie Sultan Salah ad-Dîn, das Goldene Zeitalter des Islam, der Sufismus, der Mythos von Al-Andaluz oder der europäische Kolonialismus.

Definitionsfragen

Abdel-Samads Monografie hat jedoch auch ihre Schwächen. Zentrale Begriffe wie "Fundamentalismus", "politischer Islam", "Vernunft" oder "Moral" werden nicht definiert und präzisiert. Vor allem sein Bild der europäischen Aufklärung ist klischeebeladen und oberflächlich. Studien wie jene von Ahmet Kuru (vor allem Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment: A Global and Historical Comparison) oder jene von Harold J. Berman (Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition) hätten geholfen, islamische oder christliche Religionsgeschichte besser kultur- und sozialgeschichtlich zu kontextualisieren. Das tut Hamed Abdel-Samads insgesamt ausgezeichneter Arbeit aber keinen Abbruch. (Georg Cavallar, 25.3.2023)