Die "Tante" sei schuld, dass sie ihren Job verloren habe, schimpft die junge Frau und zieht ihrem Buben den kleinen bunten Rucksack vom Rücken. Es ist kurz nach 13 Uhr, Doris Hinterberger steht beim Treppenaufgang zum NÖ Landeskindergarten Wolfpassing, wie in großen bunten Buchstaben an der Wand geschrieben steht. Abholzeit. Eine Pädagogin winkt dem Kleinen zum Abschied. Die "Tante", die Hinterberger meint, arbeitet aber nicht im Kindergarten. Wenn die junge Mutter von "der Tante" spricht, dann meint sie Johanna Mikl-Leitner, Niederösterreichs ÖVP-Chefin und frisch wiedergewählte Landeshauptfrau.

Großes Bundesland mit großen Gegensätzen: Für die Politik ist Niederösterreich schwierig.
Foto: Heribert Corn

Hinterberger ist 35 Jahre alt, auf ihren rechten Arm hat sie sich schlangenförmige Drachen tätowieren lassen, ihre Leggins ist schmutzig vom Reiten. Heute arbeitet sie als Pferdewirtin. Sie musste umdisponieren. In der Pandemie wollte sie eigentlich bei der landeseigenen Mülldeponie in Amstetten anheuern, 22 Autominuten von Wolfpassing entfernt. Der Vertrag sei schon unterschrieben gewesen. Dann kam die Frage, ob sie geimpft sei. "Na", sagt Hinterberger. "Ich bin allgemein keine Impffreundin, aber ganz sicher kein Versuchsobjekt." Das war’s mit der neuen Stelle. Damals galt für Landesangestellte die Impfpflicht, verordnet durch die ÖVP.

Wo die Welt noch in Ordnung ist

Wolfpassing ist ein kleiner Ort im niederösterreichischen Mostviertel, in dem die Welt eigentlich noch in Ordnung ist. Es gibt Jobs und Nachwuchs. Vor einem Haus kündigt ein Holzstorch den neusten Wolfpassinger an. Ein paar Straßen weiter wurde an einem Zaun eine Warnung plakatiert: Achtung, Anna wird 20! Die "20" ist rot umkringelt – wie ein Temposchild. Am Straßenrand blühen Schlüsselblumen, es gibt ein Café und sogar ein Wirtshaus. Und trotzdem: Die Unzufriedenheit mit der Politik ist groß. Man könnte sagen: Im Mostviertel ist spürbar, dass zwischen Menschen und Macht ein Graben klafft.

Doris Hinterberger arbeitet heute als Pferdewirtin.
Foto: Heribert Corn

Immerhin sei jetzt "der Udo" am Ruder, sagt Hinterberger. "Die Tante" müsse aber eigentlich "ganz weg", befindet sie. Vor drei Jahren trat sie der FPÖ bei. In Wolfpassing ist sie mit ihrer politischen Ausrichtung nicht allein. Am 29. Jänner hat fast jeder und jede Dritte im Ort die Freiheitlichen gewählt – oder eben "den Udo", FPÖ-Chef Udo Landbauer. Landesweit vereinen ÖVP und FPÖ heute fast zwei Drittel aller Stimmen hinter sich. Aber was heißt das im echten Leben?

"Jetzt werde ich abgeschoben!"

"Was ist FPÖ?", fragt eine der Jugendlichen auf dem Wiener Neustädter Hauptplatz. Ohne Akzent, es ist kein Grammatikfehler: Die Abkürzung sagt den sechs Teenagern schlichtweg nichts. Die Gruppe wartet auf den Bus und schlägt Zeit tot. Sie kichern, sind aufgekratzt, überspielen ihre Unsicherheit.

Die FPÖ ist eine fremdenfeindliche Partei, sagt der Reporter. Das löst etwas in jenem Mädchen aus, das eine kurze Erklärung wollte. Sie reißt die Augen auf und streckt den zuvor lümmelnden Oberkörper durch, als würde sie sich auf eine Rauferei vorbereiten.

"Das ist nicht okay", sagt sie bestimmt und redet sich langsam in Rage: "Wo soll ich denn sonst hin? Wo ich herkomme, ist Krieg."

"Beruhig dich", sagt ihre Freundin.

"Jetzt werde ich abgeschoben!", witzelt ein Bursche.
Niemand widerspricht ihm.

"Im Ernst? Werde ich abgeschoben?" Plötzlich ist es kein Spaß mehr für ihn.

Der Rest der Runde kichert, sie machen sich übereinander lustig, der junge Mann schweigt. Aber der Syrerin ist es jetzt auch ernst. Plötzlich weiß sie ganz genau, was und wer mit "der FPÖ" gemeint ist: "Die respektieren keine Menschen. Das ist nicht korrekt", ruft sie. Natürlich gebe es auch Ausländer, die nicht okay seien.

"Aber was kann ich dafür? Dort ist Erdbeben, dort ist Überschwemmung, ich kann da nicht zurück." Sie meint Syrien.

Die anderen kudern.

Das Mächen ist aufgewühlt, sagt dann aber bestimmt: "Ich will ja nur leben."

Die Freiheitlichen sind niemandem egal, genau das ist ihr Konzept – zuletzt wieder ein Erfolgsrezept. Herbert Kickls radikaler Kurs, das Aufhetzen der Maßnahmengegner, das systematische Untergraben der demokratischen Institutionen. Die FPÖ wurde in den vergangenen Jahren immer rechter – und keine blaue Organisation hat diesen Kurs so konsequent mitgetragen wie die niederösterreichische Landesgruppe.

Im Wahlkampf stellte Landbauer die Menschenrechte infrage. Gottfried Waldhäusl, seine Nummer zwei, beleidigte Schülerinnen rassistisch – live im Fernsehen, ohne Scham. Die Freiheitlichen polarisieren, eigentlich schon immer, aber zuletzt wieder immer mehr. Landeshauptfrau Mikl-Leitner gibt zu: Es werden Gräben aufgerissen. Dass es ihr neuer Regierungspartner war, der viel dazu beigetragen hat, sagt sie nicht.

"Ich bin völlig entsetzt"

Bisher wurden die Blauen in Regierungen zur Mäßigung gezwungen. Diesmal ist das anders. Das schwarz-blaue Regierungsprogramm liest sich wie der verschriftlichte Kniefall vor Österreichs Rechten. Und Landbauer macht keinerlei Anstalten in Richtung eines Kurswechsels seit seinem untergriffigen Wahlkampf: Mikl-Leitner hat ihn in die Regierung geholt und damit seinen strammrechten Kurs der Provokation. Warum sollte er jetzt damit aufhören? Warum sollte er den Graben schließen wollen, der ihm an die Macht verhalf?

Helga Penz und ihre Freundin in Melk.
Foto: Heribert Corn

Helga Penz und ihre Freundin sitzen in der Sonne vor einem Kaffeehaus in Melk. Es ist der erste richtige Frühlingstag des Jahres. Sie habe ihr ganzes Leben lang die Volkspartei gewählt, erzählt sie. Genauso wie der Rest ihrer Familie. Johann Penz, der ehemalige ÖVP-Politiker und Landtagspräsident in Niederösterreich, sei ihr Neffe. "Aber dass die Mikl-Leitner solche Sachen macht. Nicht nur ich bin völlig entsetzt", sagt die 85-Jährige. "Ich schließ mich an!", ruft ihre Freundin dazwischen, eine Malerin und bekennende Sozialdemokratin. "Unmöglich", sagt Penz. "Sie hätte einfach gehen müssen, wenn sie keine andere Option hat. Aber hätte sie nicht mit den Grünen oder Neos können?"

Penz hat eine große rote Kette umgehängt, fürs Foto zieht sie sich schnell ihr dazu passendes Strickjäckchen an. "Ich werde nie wieder in meinem Leben die ÖVP wählen. Das ist ganz klar." Wäre sie nicht so alt, sagt sie, würde sie jetzt gegen die neue Landesregierung auf die Straße gehen.

Oder es ist eh wurscht

Fünf Autominuten vom Kindergarten in Wolfpassing entfernt hat Thomas Heigl seinen Hof. Er ist Vollerwerbsbauer, seine Frau gerade in Karenz mit dem eineinhalbjährigen Mäderl. Seine Eltern wohnen unten im Haus, er und seine junge Familie haben das Obergeschoß renoviert. In seinem Stall stehen zwanzig Kühe. Bio finde Heigl super, das sei für ihn wirtschaftlich aber nicht machbar. Die Landesregierung löst bei ihm vor allem ein Gefühl aus: Unsicherheit. Heigl fürchtet: Die schwarz-blaue Koalition wird nicht halten. "Die FPÖ ist eine Sprengerpartei, das weiß man doch inzwischen."

Der junge Mann hat große Hände und starke Arme, sein Gesicht wird von einem zarten Bart umrandet. Die ÖVP finde er nicht schlecht, auch die Grünen würden ihm zusagen. In "seiner Bubble", wie er sagt, spiele Politik aber kaum eine Rolle. Viele in seinem Umfeld hätten das Gefühl, es sei "eh wurscht", wer an der Macht sei.

Fünf Autominuten von Wolfpassing entfernt hat Thomas Heigl seinen Bauernhof.
Foto: Heribert Corn

Auch Mustafa ist es wurscht. Ihm gehört ein Kebap-Pizza-Pasta-Lokal in Wiener Neustadt. Wer in der Regierung sei, mache für ihn keinen Unterschied: "Österreich hat ein System, und das läuft." Und die Ausländerpolitik der FPÖ? Mustafa ist österreichischer Staatsbürger, sieht sich aber als Ausländer. "Solange ich am Magistrat keine Probleme habe, ist mir das egal."

Die da oben und die da unten

Eigentlich könnte Desinteresse als Gütesiegel für den Staat gewertet werden. Wenn weite Teile der Bevölkerung nichts im Land so stört, dass sie ein Minimum an politischer Meinung entwickeln oder gar Engagement aufbringen – wie schlecht kann es laufen?

Das Argument wäre stichhaltiger, gäbe es all die echten Probleme nicht – die Teuerung, den Krieg, die Nachwehen der Pandemie. Und wenn bei Gesprächen mit vermeintlich "unpolitischen" Menschen nicht oft tiefe Frustration mitschwänge: "Die da oben" tun eh, was sie wollen. Oder, wie es eine Frau auf dem Fahrrad in Wolfpassing formuliert: "Man kann sowieso keinem Politiker mehr trauen."

In einem Land wie Niederösterreich, das jahrzehntelang absolut von der ÖVP regiert wurde, ist das Gefühl der Machtlosigkeit aller anderen besonders stark ausgeprägt. Einen Regierungswechsel, wie ihn Wählerinnen und Wähler im Bund mehrfach herbeigeführt haben, hat es hier nie gegeben. Bis jetzt. Doch ein Gefühl, das sich über Jahrzehnte in dem Bundesland festgesetzt hat, lässt sich nicht so leicht auslöschen: Mitbestimmen macht wenig Unterschied. Das bekam bisher vor allem jene Hälfte der Menschen zu spüren, die nicht die ÖVP gewählt hat.

Wer nicht nur mit all jenen spricht, die einem ihre ohnehin starke Meinung aufdrängen, bemerkt: Der größte Graben in Niederösterreich klafft womöglich nicht zwischen links und rechts, Stadt und Land, Geimpften und Maßnahmengegnern – sondern zwischen dem Volk und seinen Vertretern.

In Melk wechselt Helga Penz ihre Sonnenbrille gegen eine Lesebrille, mit ihrer Freundin am Tisch diskutiert sie inzwischen lautstark und mit Inbrunst. "Alle, die ich kenne, sind so enttäuscht", sagt Penz. Dann erzählt die pensionierte Kindergarteninspektorin: Bei der Landtagswahl im Jänner sei sie gar nicht wählen gegangen. Sie war nicht da.

Am Donnerstag wurde Niederösterreichs erste schwarz-blaue Regierung angelobt. Die Reaktionen darauf zeigen, wie weit sich Politik von vielen Bürgern und Bürgerinnen entfernt hat.
Foto: Heribert Corn

Der 15-jährigen Syrerin auf dem Wiener Neustädter Hauptplatz wird es im Lauf des Gesprächs peinlich, dass sie zuerst nicht wusste, was die FPÖ ist – ihre Ideen kannte sie ja. "Ich kann nicht wählen, sonst hätte ich mich informiert und wäre hingegangen", verteidigt sie sich. "Und ich hätte allen gesagt, dass sie nicht die FPÖ wählen sollen."

Doris Hinterberger, die junge Mutter aus Wolfpassing, sagt: "Vielleicht wird jetzt dann endlich wieder was für die Menschen gemacht, nicht nur für die Obrigen und Geldigen." Immerhin sie schöpft aus der blauen Regierungsbeteiligung auch Hoffnung: "Vielleicht können Mädels irgendwann wieder rausgehen am Abend – ohne die Angst, dass sie vergewaltigt werden."

"Warum sagt das keiner?"

Heigl, der Jungbauer, ist überzeugt: "Die ÖVP zieht sich das bauernfreundliche Sakko an, wenn sie bei uns ist. Und wenn die einen Unternehmer besuchen, sagen sie, was der hören will." Er verstehe nicht, warum die Politik nicht ehrlich aussprechen könne, dass Zusammenleben auch bedeute, Kompromisse einzugehen. "Warum sagt das keiner?"

Manchmal macht es den Eindruck, als sei die Politik gefangen zwischen widersprüchlichen Ansprüchen ihrer Wählerinnen und Wähler: Schließt doch Kompromisse! Aber steht gefälligst auch nach der Wahl zu dem, was ihr davor versprochen habt. Hört auf die Bevölkerung! Aber pfeift auf Umfragen, und steht zu eurer Überzeugung!

Und es stimmt schon: Mit echten Argumenten dringt die Politik oft nicht durch. Nur: Versucht sie es überhaupt?

"Das willst du nicht hören", lautet die erste Antwort der Feierabendrunde im Schanigarten eines Wiener Neustädter Beisls. Die Frage war, was die drei Männer von der schwarz-blauen Landesregierung halten. Der jüngste und nüchternste findet: alles Trotteln. Zuerst weigert er sich, überhaupt mehr zu sagen, um dann zu einer Tirade anzusetzen. Davor aber stachelt er seinen älteren Freund an, der vor einem gut gefüllten Aschenbecher und nicht dem ersten Achtel Rot sitzt.

"Ich darf’s ja gar nicht sagen, weil ich den Udo gut kenn …", setzt er an.

"... aber ich bin von den Blauen noch mehr als von den Schwarzen ..."

"Wos?"

"Na enttäuscht!"

Die beiden Männer deklarieren sich als ÖVPler, finden aber "den Udo", den sie aus Wiener Neustadt kennen, auch ganz gut. Also bis jetzt. Denn Landbauer hatte vor der Wahl versprochen, Mikl-Leitner nicht zur Landeshauptfrau zu machen. Nun hat die FPÖ im Landtag ungültig gewählt, damit die Stimmen der Volkspartei für ihre Kür reichen.

"Es ist regelkonform, aber es ist nicht logisch", sagt der dritte, ruhigere Mann der Runde. "Eigentlich ist es eine bodenlose Frechheit", schärft der Jüngere nach.

Lange halten sich die Neustädter aber nicht mit der Landespolitik auf, bald geht es um Abschiebungen, da sind sie kaum zu bremsen: Warum Ausländer nach einer Vergewaltigung nicht sofort außer Landes gebracht werden, sieht der Rotweintrinker nicht ein.

"Weil sie sich nicht trauen", entgegnet sein Freund energisch und meint die Bundesregierung

"Weil du gleich ein Nazi bist, wenn du das sagst.

"Ich bin kein Nazi", sagt der andere leise. Er war nicht gemeint. Aber sicher ist sicher.

Klaus Schneeberger erledige seinen Job als Bürgermeister ganz gut, befindet der Ältere:

"Für Neustadt macht er was."

Das bringt den Jüngeren in Fahrt: "Was macht er? Dass der Hauptplatz ausstirbt und der vierte Asiate aufsperrt in der Herzog-Leopold-Straße?"

"Der fünfte!", ruft die Kellnerin.

Der Ruhige, schelmisch: "Sei ein bisserl weltoffen."

"Ich bin eh weltoffen, aber wer kann so viele Nudeln fressen? Du kriegst kein Schnitzel mehr am Hauptplatz!"

Komplett "hirnrissig" findet die Runde den Corona-Fonds der neuen Landesregierung, mit dem Strafen aus der Pandemie zurückgezahlt werden sollen. Die Politik ist bei den Männern aber auch ganz allgemein unten durch: ein Bundespräsident, der sich selbst aussuchen wolle, wen er angelobe; eine Bundesregierung, die nichts zustande bringe; zwei Parteien in der Landesregierung, die vor der Wahl nichts voneinander wissen wollten und nun zusammenarbeiten. Das soll Demokratie sein? "Da bleib ich daheim", sagt der Junge.

Ein Viertel der niederösterreichischen Wahlberechtigten hat die Landtagswahl ignoriert. Das hält eine Demokratie aus. Aber was ist mit dem Rest, der interessiert ist, wählen geht – und trotzdem eine unüberwindbare Distanz zur Politik spürt?

Dieser Graben ist da, und er ist tief. Hält eine Demokratie das aus? (Sebastian Fellner, Katharina Mittelstaedt, 25.3.2023)