Auf dem Wiener Brunnenmarkt gibt es beinahe überfordernd viel zu sehen. Da werden Teigfladen mit schwungvollen Bewegungen an die senkrechten Wände eines Lehmofens geklatscht und so gebacken. Riesige Käselaibe liegen in Reih und Glied auf meterlangen Tischen und verströmen ihr Aroma. Kundinnen und Passanten drängen sich neben einem dichten Blumenmeer aus Narzissen, Hyazinthen und Tulpen, das in der Vormittagssonne leuchtet.

Der Brunnenmarkt ist Wiens am meisten frequentierter und derzeit auch am meisten diskutierter Markt.
Foto: Robert Newald

Eines ist unter den Markisen und Sonnenschirmen aber nicht zu finden: ein Syrer, der fünf Stände hat. Wer bei den Händlerinnen und Händlern danach fragt, erntet ratlose Blicke. Und beim städtischen Marktamt ist man sich sicher: Es gibt keinen syrischen Unternehmer auf dem Markt in Ottakring, der so viele Stände "oder mehr" hat.

Anders dargestellt hat das Wiens ÖVP-Chef Karl Mahrer. "Syrer, Afghanen, Araber haben die Macht über den Brunnenmarkt übernommen", erklärt er in einem Facebook-Video. Da gebe es zum Beispiel diesen einen Syrer mit fünf Ständen, der "geht herum und sagt: ‚Ich nehme noch einen sechsten und noch einen siebten Stand. Ich zahle jeden Preis, ich habe Geld genug‘", behauptet Mahrer. Der Clip über den angeblichen Niedergang des "Wiener Wahrzeichens" sorgte in den vergangenen Tagen für Aufregung und Gesprächsstoff.

Nach wie vor scheint nicht alles gesagt zu sein: Für Montag hat der pinke Vizebürgermeister und Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr in die Brunnenpassage zum Grätzelgespräch mit Standlern, Händlerinnen und anderen Stakeholdern geladen. Ziel sei es, das Positive im Grätzel wieder in den Mittelpunkt zu rücken, heißt es von den Neos. Aber was halten Betroffene auf dem Markt von der Debatte?

"Es ist mit egal", lautet der Kommentar zu Mahrers Kritik am Brunnenmarkt beim syrischen Imbissstand.
Foto: Robert Newald

Die Standlerinnen und Händler

Dass irgendetwas mit dem Brunnenmarkt war, haben die meisten Geschäftsleute mitbekommen. Beim syrischen Imbissstand gibt man sich unbeeindruckt: "Es ist mir egal." Zwei Syrer und zwei Iraker verkaufen dort Fatteh, Kibbeh und andere Spezialitäten. Das Gros der Kundschaft seien Österreicherinnen und Österreicher: "Die wollen unsere Speisen kennenlernen."

Für den türkischstämmigen Chef des Käseparadieses und fünf weiterer Stände ist das Angebot durch syrische, afghanische und arabische Konkurrenz am Markt hingegen eintönig geworden: Überall seien nun Datteln und andere Trockenfrüchte zu haben – er selbst verkaufe sie nur mehr in kleineren Mengen.

Zu sagen haben am Markt fast alle etwas zu Mahrers Aussagen, die Chefin des seit 40 Jahren bestehenden Blumengeschäfts will sich jedoch nicht äußern, Begründung: "Wenn man die Wahrheit sagt, ist es falsch." Und Mahrers Video sei genau das: die "reine Wahrheit".

Der Inhaber des Käseparadieses und fünf weiterer Stände spürt die syrische, afghanische und arabische Konkurrenz.
Foto: Robert Newald

Die Kundinnen und Besucher

Die Marktbesucherin aus Hietzing ist entrüstet: "Das war so eine blöde Bemerkung, eine reine Anbiederung an die FPÖ." Fladenbrot bekommt die Pensionistin in ihrer Wohngegend nicht, deshalb deckt sie sich in Ottakring ein. Früher habe sie ÖVP gewählt, das sei aber vorbei: "Die sollten den christlich-sozialen Gedanken wieder leben. Der hört ja nicht auf, nur weil jemand aus einem anderen Land kommt."

Sämtliche anderen Kundinnen und Marktbesucher sehen das beim Lokalaugenschein ähnlich. Lediglich eine junge Frau mit Falafel-Sandwich in der Hand kann Mahrers Aussagen einen positiven Aspekt abgewinnen: "Wer so einen Blick auf den Brunnenmarkt hat, wird ohnehin nicht hierherkommen. Schade für die – aber gut für uns." Ihr Begleiter ist mit dem Warenangebot hochzufrieden: "Ich finde nicht, dass etwas überwiegt." Und selbst wenn, sei das legitim: "Das Angebot wird eben von der Nachfrage gesteuert."

Sie selbst wisse wisse sich nichts mit der Ware aus der afrikanischen Fleischerei anzufangen, sagt eine Seniorin. "Das Fleisch schaut ganz anders aus. Aber ich finde es gut, dass es das gibt."
Foto: Robert Newald

Eine Seniorin, die slowakischen Brimsen kauft, wünscht sich weniger Gastronomie auf dem Markt. Sie befürwortet selbst die Existenz von Lebensmittelständen, mit denen sie nichts anzufangen weiß: "In der afrikanischen Fleischerei schaut das Fleisch ganz anders aus. Aber ich finde es gut, dass es das gibt."

Das städtische Marktamt

Eigentlich ist dem Marktamt egal, welche Herkunft oder Staatsbürgerschaft Standlerinnen und Standler haben: Das wird nicht erfasst. Um den Vorwurf der fehlenden Durchmischung auf dem Brunnenmarkt zu kontern, führte das Marktamt dort jedoch eine kleine Umfrage durch. Das Ergebnis: 46 Nationalitäten sind vertreten. Wie oft jede einzelne davon vorkomme, sei aber nicht ausgezeichnet worden, sagt ein Sprecher.

Samstags ist am Yppenmarkt, der mit dem Brunnenmarkt zusammengewachsen ist, Bauernmarkt.
Foto: Robert Newald

Was Händlerinnen und Händler bei den insgesamt 685 Marktständen in ganz Wien anbieten, kann das Marktamt nur bei jenen 212 Exemplaren beeinflussen, die der Stadt gehören. Wer einen solchen Stand pachten möchte, muss sich in einer Ausschreibung mit einem Konzept durchsetzen. "Wenn auf einem Markt ein Fleischer fehlt, dann wird er bei der Bewerbung bessere Chancen haben", erklärt ein Sprecher.

Bei der Weitergabe der 473 Stände in Privatbesitz habe das Marktamt keine Möglichkeiten, auf das Angebot einzuwirken. Hier prüft es lediglich, dass bei Interessenten weder Vorstrafen wegen Hygieneverstößen noch Finanzstrafverfahren vorliegen. Weitere Voraussetzung: ein österreichischer Gewerbeschein. Und der stehe nun mal allen EU-Bürgern und Personen mit Aufenthaltstitel offen.

Die Politik und die Wirtschaft

Nach Aufflammen der Debatte ging Wiens Bürgermeister Michael Ludwig gleich einmal einkaufen. "Der Brunnenmarkt ist deshalb auch ein besonders attraktiver Markt, weil er so vielfältig ist", sagt der SPÖ-Politiker. Und: "Es ist eine gute Möglichkeit, hohe Qualität zu verbinden mit einem preislich günstigen Angebot." In seiner Zeit als Wohnbaustadtrat habe er bereits mit Stakeholdern daran gearbeitet, das "gesamte Erscheinungsbild in dem Grätzel positiv zu beeinflussen, auch mit großem finanziellen Aufwand der Stadt". Das Video Mahrers sei "eine reine politische Propaganda, die zeigt, dass die ÖVP Wien großes Interesse hat, die FPÖ rechts zu überholen", sagt Ludwig. Von einem "schäbigen politischen Manöver" spricht Vizebürgermeister Wiederkehr. Mahrer würde Menschen, die sich "bei uns etwas aufgebaut haben und zur Gemeinschaft beitragen", verunglimpfen. "Die Aussagen von ihm sind nicht nur falsch, sie sind rassistisch."

Am Sonntag meldete sich Mahrer erneut zu Wort: "Unsere Kritik richtet sich nicht gegen Unternehmer, und sie richtet sich nicht gegen Zuwanderer, die sich integrieren." Er werde "bewusst falsch interpretiert". Nie habe er über den Yppenmarkt gesprochen oder den Brunnenmarkt als "No-go-Zone" bezeichnet. Es gehe ihm lediglich darum zu thematisieren, ob "die für einen Markt übliche Vielfalt unter Einbeziehung österreichischer Kultur auf dem Brunnenmarkt noch gegeben ist".

Markus Hanzl, Marktsprecher und Interessenvertreter der Standler in der Wiener Wirtschaftskammer, sieht das Thema pragmatisch: "Schlechte Werbung ist auch Werbung." (Stefanie Rachbauer, Oona Kroisleitner, 27.3.2023)