Kurz vor Sonnenaufgang wird es am Himmel immer richtig finster", sagt Omer, den Cappuccinobecher in der Hand. Es ist zwölf Uhr Mittag, die Sonne steht hoch am Himmel und wirft ihr grelles Licht auf Omer, der bei einer Kaffeepause im Park über die politische Lage in Israel philosophiert. "Heute sagen wir, es ist richtig furchtbar. Aber wer weiß, was in ein paar Jahren sein wird?"

Video: Wie Netanjahu die Justiz entmachtet.
DER STANDARD

Während zwei Kilometer entfernt von Omers Kaffeepausenplatz rund 3000 Menschen in Haifas Hightech-Viertel gegen die geplante Justizreform demonstrieren und vor Israels Abgleiten in die Diktatur warnen, ist Omer optimistisch. "Die Politiker sind in der Minderheit", meint der 30-jährige Yogalehrer. "Was zählt, sind die Menschen und ihr tägliches Leben, wie sie miteinander umgehen, wie sie kommunizieren. Das ist stärker als die da oben." Und wenn nicht, wird Omer davon nichts mitbekommen: "Ich möchte ohnehin auswandern", sagt er. Wohin? "Nach Wien."

Mit seinen Exilplänen ist Omer nicht allein. Die Zahl der jungen Israelis, die sich einen ausländischen Zweitpass besorgt haben, ist in den vergangenen Monaten explodiert. Viele haben Vorfahren in den USA, Deutschland oder anderen europäischen Ländern und damit Zugang zur jeweiligen Staatsbürgerschaft. Zwei Gründe geben den Ausschlag für die Entscheidung, das Land zu verlassen: einerseits die hohen Lebenskosten, die unleistbaren Mieten und die dramatischen Inflationsprognosen.

Die größte Sorge der Jungen ist andererseits die politische Entwicklung. "Das ist ein historischer Moment", sagt der 33-jährige Erez, der mit seinem Freund Noam ein kleines Café in Haifa betreibt. "In Israel hat es immer Probleme gegeben, aber so etwas wie heute – das war noch nie", so Erez. Noam stimmt ihm zu. "Die Ultraorthodoxen und Siedler bekämpfen alles Säkulare, sie bringen dieses Land um."

"Du sollst nicht stehlen"

Die Rede ist von der neuen national-religiösen Regierung unter Benjamin Netanjahu, die Israels Demokratie eine Radikalbehandlung verordnet hat, die laut ihren Kritikern nichts anderes ist als eine Giftspritze. Die Regierung nennt es "Justizreform". Doch es geht um weit mehr als das: Die Koalition sichert sich durch das umfassende Reformpaket weitgehend unbeschränkte Macht. Ein Teil wurde schon beschlossen. Seit Donnerstag ist es de facto unmöglich, einen Ministerpräsidenten des Amtes zu entheben. Selbst dann, wenn er, wie Netanjahu, eine Verurteilung wegen schwerer Korruption zu befürchten hat.

Im nächsten Schritt will die Regierung die richterliche Unabhängigkeit abschaffen. Künftig sollen Richter von den Koalitionsparteien bestimmt werden. Das gilt auch für die Richter des Obersten Gerichtshofes, der de facto einzigen Kontrollinstanz, die der Regierung in Israel Steine in den Weg legen kann. Wenn diese Instanz fällt, kann die Koalition alles tun, niemand könnte sie hindern: von der Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts bis hin zur Todesstrafe für leichte Vergehen.

Seit Monaten gehen hunderttausende Israelis gegen die Reform auf die Straßen. Sie blockieren Autobahnen und Hafenzufahrten, protestieren vor den Privathäusern der Minister. Vor dem Haus des ultraorthodoxen, wegen Steuerbetrugs verurteilten Innenministers Arye Deri in Jerusalem versammelten sich am Donnerstag junge Toraschüler, tanzten im Kreis und sangen das siebte Gebot, "Du sollst nicht stehlen".

Israelische Start-ups kündigten an, ihr Hauptquartier ins Ausland zu verlegen. Ökonomen warnen, dass der Demokratieumbau dem Staat Folgekosten von mehreren Milliarden verursachen könnte. Reservisten aller Eliteeinheiten gaben bekannt, bei Routineeinsätzen nicht mehr zu erscheinen. In einem Krisengespräch mit Netanjahu gab Generalstabschef Herzi Halevi sogar zu bedenken, dass die Zahl der Wehrdienstverweigerer stark zunehmen könnte – in Israel bisher ein absolutes Randphänomen.

Die Massenproteste gegen die Justizreform reißen nicht ab – viele junge Israelis arbeiten bereits an einem Plan B.
Foto: AFP/Jack Guez

"Strategischer Warnruf"

Das Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS), das sich sonst mit nüchternen Analysen zur Bedrohung Israels durch den Iran und palästinensische Terrorgruppen zu Wort meldet, sah sich diese Woche zum ersten Mal zu einem außerordentlichen "strategischen Warnruf" vor dem geplanten innenpolitischen Umsturz veranlasst. Die Experten erwarten, dass die Justizreform die Moral der Armee und ihre Einsatzfähigkeit verringert und zudem "Israels Fähigkeit unterminiert, sich seinen Feinden entgegenzustellen und sich den Schutz seiner Verbündeten zu sichern".

Große Protestbewegungen hat Israel schon oft gesehen. Nie aber ging ein Antiregierungsprotest quer durch fast alle Lager der Gesellschaft. Konservative stehen neben Linken, gläubige Männer mit Kippa neben säkularen lesbischen Müttern mit Kind. Offiziere der Armee, die öffentlich deklariert haben, den Einsatzbefehl zu verweigern, stehen neben Mindestpensionisten und Pflegekräften. Nur eine Gruppe ist kaum vertreten: die israelischen Araber, die immerhin 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. "Ich glaube nicht, dass alles schlechter wird", sagt die 17-jährige Dala. "Uns Arabern geht es sowieso schlechter als den anderen", sagt sie und lacht dazu, "da wird sich nicht so viel ändern."

Einen Prozess der Veränderung hat hingegen Langzeitregierungschef Netanjahu durchgemacht. Der Konservative hat sich im Lauf seiner Karriere von einem Mitte-rechts-Politiker zu einem rechten Hardliner entwickelt, der seine Likud-Partei ganz auf seine Person zugeschnitten hat. Politikwissenschafter im Auftrag des Chapel Hill Expert Survey haben die heutigen Positionen des Likud analysiert. Ihr Ergebnis: Ordnete man die Positionen von Netanjahus Partei etwa in Deutschlands Parteienspektrum ein, stünde der Likud mit seinen Positionen heute der rechtsextremen AFD näher als der konservativen CDU/CSU.

Gebrochene Versprechen

Dabei gilt Netanjahu in seiner aktuellen Koalition mit Rechtsradikalen und Ultrareligiösen noch als vergleichsweise moderate Kraft. Dass diese mäßigende Wirkung kaum zur Geltung kommt, liegt daran, dass der 73-Jährige leicht erpressbar ist: Die anderen fünf Parteien wissen, dass er sie unbedingt braucht, um an der Macht zu bleiben. Auch dafür, um jene Gesetze durchzubringen, die ihn vor einer möglichen Gefängnisstrafe schützen könnten.

Seine rechtsextremen Partner spielen mit ihrer Macht, indem sie Netanjahu regelmäßig bloßstellen. Finanzminister Bezalel Smotritsch trat in Paris vor einer abgewandelten Israel-Landkarte auf, die auch jordanisches Staatsgebiet umfasste – worauf Jordanien prompt den israelischen Botschafter einberief. Israels Botschafter in Washington wurde am Dienstag ins US-Außenministerium bestellt und musste sich dort rechtfertigen, warum Israels neue Regierung zahlreiche Versprechen bricht, die es in puncto Palästinenserpolitik zuvor abgegeben hatte.

Wie es in Israel nun weitergeht, wagt niemand zu prophezeien. Cafébetreiber Erez, dessen Familie halb säkular, halb ultraorthodox ist, glaubt, dass säkulare Israelis wie er am Ende die Oberhand gewinnen werden: "Die Wirtschaft, die Armee, die Wissenschaft – alles ist in unserer Hand", sagt Erez. "Heute fühlen sich die Nationalreligiösen stark. Aber sie wissen auch: Ohne uns sind sie verloren." (Maria Sterkl aus Haifa, 24.3.2023)