In ihrem Gastkommentar fordert die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin und Gründerin des Center for Civil Liberties Oleksandra Matviichuk Gerechtigkeit für alle Opfer. Von der Aussicht, zur Rechenschaft gezogen zu werden, erwartet sie sich zudem "eine abkühlende Wirkung auf die Brutalität von Menschenrechtsverletzungen".

Wie soll man Kriegsverbrechen in der Ukraine sühnen? Gegen den Kreml-Chef gibt es einen internationalen Haftbefehl.
Foto: EPA / Oleg Petrasyuk

Der russische Angriffskrieg fordert einen hohen Tribut von der ukrainischen Bevölkerung. Kyjiw und viele andere ukrainische Städte wurden und werden unablässig von russischen Raketen beschossen. Viele Familien mussten fliehen, um ihr Leben zu retten – manchmal nur, um festzustellen, dass es innerhalb der Ukraine trotz Flucht kein sicheres Versteck vor russischen Raketen und Kriegsverbrechen gibt.

Der Krieg begann im Februar 2014: Die Ukraine ergriff nach dem Zusammenbruch ihres autoritären Regimes in der auch als Euromaidan bekannten Revolution der Würde die Chance zu einer schnellen demokratischen Transformation. Um diesen demokratischen Prozess zu stoppen, hat Russland einen Angriffskrieg gestartet und die Krym sowie Teile von Luhansk und Donezk besetzt.

"Ein Krieg zwischen zwei Systemen: Autoritarismus und Demokratie."

Der gegenwärtige Konflikt ist damit nicht nur ein Krieg zwischen zwei Staaten, sondern ein Krieg zwischen zwei Systemen: Autoritarismus und Demokratie. Auf der einen Seite steht der russische Präsident Wladimir Putin, der immer wieder versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Freiheit keine echten Werte sind, weil sie den Menschen keinen Schutz im Krieg gewährleisten können. Ihm stellen sich die Ukrainerinnen und Ukrainer entgegen. Sie weigern sich, Putins Argumentation zu akzeptieren, und antworten ihm mit ihrem Kampf für Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit.

Besetzung unvorstellbar

Während dieses blutigen Krieges sehnt sich die Ukraine verzweifelt nach Frieden, aber Frieden kann nicht erreicht werden, indem das angegriffene Land gezwungen wird, jegliche Kampfhandlungen einzustellen und ihre Verteidigung aufzugeben. Ein solches Vorgehen würde nicht zu Frieden, sondern zu Besetzung führen. Der Terror und die Gewalt, welchen die Menschen in besetzten Gebieten unterworfen sind, zeigen das nur zu gut.

Die russische Regierung tötet dort vorsätzlich engagierte Gemeindemitglieder wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Abgeordnete, Menschenrechtsaktivistinnen und Menschenrechtsaktivisten, Journalistinnen und Journalisten, Polizistinnen und Polizisten, Künstlerinnen und Künstler oder in der Freiwilligenarbeit Tätige. Auf Straßen, in Gärten und Folterkammern wurden grausam gefolterte tote Zivilistinnen und Zivilisten gefunden. Für alle, die sie nicht selbst erlebt haben, ist die Lebensrealität unter der Besatzung unvorstellbar.

"Es gilt, unverzüglich rechtliche Verfahren einzuleiten."

Trotz dieser Gräueltaten kämpfen die Ukrainerinnen und Ukrainer weiterhin für ihre Freiheit und weigern sich, eine russische Kolonie zu werden. Sie kämpfen für ihre Freiheit, Ukrainerinnen und Ukrainer zu sein, ihre ukrainische Identität behalten zu dürfen, und für die Chance, ein Land aufzubauen, in dem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit herrschen.

Angesichts dieser Widrigkeiten hat sich die Ukraine an die internationale Gemeinschaft gewandt und zur Unterstützung ihres Kampfes für Demokratie und Freiheit aufgerufen. Das Land braucht moderne Waffen, um sich selbst gegen die russische Aggression zu verteidigen, denn die Vereinten Nationen haben es nicht geschafft, die Gräueltaten in den besetzten Gebieten zu beenden. Die internationale Gemeinschaft muss das Leid der Zivilbevölkerung anerkennen und den Kampf um grundlegende Menschenrechte unterstützen. Es ist dringend erforderlich, den weltweiten Umgang mit den Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte zu ändern und ein internationales Tribunal einzurichten.

Gerechtigkeit für alle Opfer

In der Vergangenheit begann die rechtliche Aufarbeitung der Verbrechen autoritärer Regime, wie beispielsweise im Fall der Nürnberger Prozesse, erst nach deren Fall. Heute muss Gerechtigkeit aber unabhängig von der Macht eines Regimes möglich sein. Es gilt, unverzüglich rechtliche Verfahren einzuleiten. Dabei geht es nicht nur um die Bestrafung der Täterinnen und Täter, sondern auch um die Vermeidung künftiger Gräueltaten. Die Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden, kann eine abkühlende Wirkung auf die Brutalität von Menschenrechtsverletzungen haben.

Auf dem Weg zur Gerechtigkeit müssen also zwei Vorurteile überwunden werden: Zum einen darf man nicht mehr davon ausgehen, dass derartige Bemühungen erst nach Beendigung des Krieges eintreten können. Internationale Verbrechen werden jetzt begangen, rechtliche Verfahren müssen dementsprechend unverzüglich eingeleitet werden. Zum anderen muss entschieden zurückgewiesen werden, dass nur bestimmte Kategorien von Menschen oder bestimmte Arten von Verbrechen verfolgt werden. Diese Vorstellung macht Menschen zu Nummern und spricht ihnen ihre Menschenwürde ab. Gerechtigkeit muss allen Opfern zuteilwerden, unabhängig von ihrer sozialen Stellung oder dem Ausmaß der Grausamkeit, das ihnen angetan wurde.

"Ein Ausweg aus der Straflosigkeit ist die Einrichtung eines hybriden Justizmechanismus."

Eine mögliche Vorgehensweise für einen Ausweg aus der Straflosigkeit ist die Einrichtung eines hybriden Justizmechanismus. Nationale Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte könnten mit internationalen Richterinnen und Richtern zusammenarbeiten, um Kriegsverbrechen wirksam zu untersuchen und zu verfolgen. Der Kampf um Gerechtigkeit sollte sich dabei nicht auf das Verbrechen der Aggression beschränken. Auch die anderen im gegenwärtigen Zusammenhang verübten internationalen Verbrechen müssen geahndet werden. Das ukrainische Rechtssystem ist schon jetzt mit der Zahl der laufenden Strafverfahren überfordert. Der Internationale Strafgerichtshof wird seine Ermittlungen auf einige ausgewählte Fälle beschränken. Es sollte aber keines der verübten Verbrechen nur in unseren Archiven oder in den Berichten internationaler Organisationen verbleiben.

Leid instrumentalisiert

Russland hat das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung instrumentalisiert, um den Krieg zu gewinnen. Um dem entgegenzuwirken, braucht es eine wirksame Antwort der Justiz. Gerechtigkeit für alle Opfer von Kriegsverbrechen ist ein moralischer Imperativ und ein Weg, um künftige Gräueltaten zu verhindern. Durch die Überwindung der genannten Vorurteile und die Einrichtung eines hybriden Justizmechanismus können wir den Menschen ihre Namen und ihre Menschenwürde zurückgeben. (Oleksandra Matviichuk, 26.3.2023)