Von der Terrasse des kleinen, zweistöckigen Gebäudes mitten im Schweizergarten, seinem Büro in der Erste Stiftung, hat man einen guten Blick auf den hohen Turm des Erste Campus am Hauptbahnhof auf der anderen Straßenseite. Er liebe das hier, sagt Andreas Treichl und blinzelt in die Frühlingssonne. Ein bisschen komme er sich vor wie "im Ausgedinge", sagt er.

Der Crash der Credit Suisse werde keine Schockwellen durch Europa schicken, meint Andreas Treichl.
Foto: Regine Hendrich

Jahrelang dirigierte Andreas Treichl als CEO die Geschäfte der Erste Group drüben. Jetzt, als Aufsichtsratschef der Erste Stiftung, des Kernaktionärs der Erste Group, kümmert er sich im kleineren Haus um die größeren Linien. DER STANDARD traf Treichl, um mit ihm über Bankenkrise, Zukunftsvisionen und die Neutralität Österreichs zu sprechen.

STANDARD: Wir haben Jahre der Krisen hinter uns: Corona-Pandemie, Ukrainekrieg, Energiekrise, hohe Inflation – kommt jetzt eine weitere, eine internationale Bankenkrise wie 2008?

Treichl: Nein, das glaube ich nicht. Wir sehen in der Schweiz und in Kalifornien die Krise zweier großer Banken, die sehr unterschiedliche Ursachen haben. In den USA sind noch ein paar kleinere Banken betroffen, da gibt es auch spezifische amerikanische Regulationsprobleme, die mit Europa nichts zu tun haben. In der Schweiz ist das Thema, dass dort gewisse Regeln anders interpretiert werden als im Rest Europas. Dass es deshalb zu einem Flächenbrand kommt, kann ich ausschließen.

STANDARD: Credit Suisse ist "too big to fail" – gleichzeitig waren Fehlentscheidungen und Skandale jahrelang bekannt. Wie kann es sein, dass alle zusehen, wie ein derart wichtiges Unternehmen dann doch öffentlich scheitert? Wo war da die Aufsicht, die jetzt hektisch agiert hat?

Treichl: Man muss den Ursprung in der Kultur dieser Bank suchen. Die war in vielen langen Phasen fehlgeleitet. Die Aufsicht kann in Fakten eingreifen, aber sie ist nicht in der Lage, eine Kultur zu beeinflussen. Es gab viele Indizien in den vergangenen Jahrzehnten, dass das irgendwann scheitern wird. Investoren und Aktionäre leiden nun unter den Folgen. Ich glaube aber nicht, dass Schweizer Steuerzahler leiden werden.

STANDARD: 2009 wurden zahlreiche Regelungen erlassen, die einen Crash des Finanzsystems verhindern sollten. Allerdings wurden sie nicht in großem Stil getestet. Kann es sein, dass wir gar nicht wissen, ob die Regeln auch funktionieren?

Treichl: Im Großen und Ganzen wurde damals ein guter Job gemacht. In manchen Bereichen wurde über das Ziel hinausgeschossen, anderswo wurde es extrem gut gemacht, manches ist durchgerutscht. Wenn man in die Schweiz schaut: Über eine Bank, die drei Mrd. Franken Verlust macht, gleichzeitig drei Mrd. an Boni ausschüttet, muss man gar nicht mehr reden. Da muss etwas grundlegend falsch sein.

STANDARD: In Österreich haben wir unsere eigene Bankenaffäre. Im Fokus steht die RBI, die immer noch beste Geschäfte in Russland macht. Es geht um Assets in Höhe von zwei Milliarden Euro. Gleichzeitig ist Österreich ins Visier der US-Sanktionsbehörde OFAC geraten. Soll sich die RBI aus Russland zurückziehen?

Treichl: Als Vertreter des größten Aktionärs der Erste Group möchte ich keine Kommentare zu Raiffeisen geben, zumal wir uns dereinst aus vielen Gründen entschieden haben, nicht nach Russland zu gehen.

STANDARD: Im Nachhinein die richtige Entscheidung – aber warum damals?

Treichl: Mir war Russland immer ein bisschen unheimlich von der Art und Weise her, wie dort Geschäfte gemacht wurden. Ich habe von 2000 bis 2008 viele Banken in Tschechien, Serbien, auch in der Ukraine gekauft. Aus Letzterem sind wir bald wieder, lange vor den Maidan-Protesten, ausgestiegen, weil ich mit der politischen Situation dort nicht umgehen konnte und wollte. Das gilt für Russland umso mehr. Dazu kommt, dass immer mein Ziel war, mit der Erste Bank überall dort, wo wir hineingehen, mindestens 15 Prozent Marktanteil zu erreichen. Hätten wir das in Russland versucht, wären wir eine russische Bank mit ein paar Filialen in Nachbarländern geworden. Das wollte ich nicht.

"Wollen wir bei jedem Konflikt in Europa zu den USA laufen und bitten, dass man uns hilft?"

STANDARD: Wie konnte es zur massiven Abhängigkeit Europas, vor allem Deutschlands und Österreichs, von Russland kommen?

Treichl: Österreich hat immer schon sehr, sehr starke wirtschaftliche Beziehungen mit Russland gehabt hat – wie auch mit vielen anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Auch die österreichischen Banken waren viel früher und viel mächtiger in dieser Region vertreten, als das in anderen Ländern der Fall war. Deshalb tut sich Österreich in der Sanktionsbewirtschaftung etwas schwerer als andere Länder, die weniger intensive Wirtschaftsbeziehungen haben. So stellt sich das aus österreichischer Sicht dar.

STANDARD: Und aus europäischer Sicht?

Treichl: Für Europa, und übrigens auch für Österreich, sollte der Ukrainekrieg ein dringender Weckruf sein, dass wir da etwas grob falsch gemacht haben. Den letzten Weckruf, den es hätte geben können, haben wir nämlich verschlafen. Das waren die Balkankriege Anfang der 1990er-Jahre. Europa musste damals realisieren, dass es nicht in der Lage ist, einen Krieg und einen Völkermord in einem für europäische Verhältnisse relativ kleinen Raum in den Griff zu bekommen. Ohne Hilfe der Amerikaner hätte Europa, damals die größte Wirtschaftsmacht der Welt, kläglich versagt. Hätte Europa sich damals zusammengetan, hätte man am 22. Februar 2022 beim Kreml anklopfen und sagen können: "Wir haben gehört, ihr habt vor, übermorgen die Ukraine zu überfallen. Lasst es bleiben, denn wir sind umgehend dort und verteidigen Europa." Vielleicht hat man’s jetzt verstanden.

STANDARD: Wollen Sie eine EU-Armee?

Treichl: So weit muss man gar nicht gehen. Man hätte damals beginnen können, eine europäische Verteidigungsindustrie aufzubauen, eine Kommunikationsindustrie, die sicherstellt, dass alle europäischen Armeen miteinander kommunizieren und agieren können. Nebenbei hätte man die Frage klären müssen, wo Europa beginnt und wo es aufhört. Aber jetzt gibt die EU mehr Geld für Verteidigung aus als Russland – und wirkt dennoch hilflos. Wir stehen vor der Entscheidung: Wollen wir bei jedem Konflikt in Europa zu den USA laufen und bitten, dass man uns hilft?

STANDARD:Haben Sie deshalb den offenen Brief unterzeichnet, in dem 90 Menschen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik fordern, offen über Österreichs Neutralität zu debattieren?

Treichl: Ja, wir behaupten ja nicht, dass wir die Lösung haben – und ich denke auch, dass wir durchaus unterschiedliche Zugänge haben. Aber darüber reden muss man. Wir können uns nicht immer auf die USA verlassen. Wenn wir uns einmal ermächtigen, bringen wir ja auch durchaus etwas zustande.

STANDARD: Zum Beispiel?

Treichl: Als Boeing im Flugzeugbau begann, eine totale Übermacht zu werden, haben sich die unterschiedlichsten europäischen Firmen und auch Regierungen zusammengeschlossen, um hier selbst etwas auf die Beine zu stellen. Das ist gelungen. Airbus ist heute wesentlich stärker als Boeing. Warum sollte das im Verteidigungs- und im Kommunikationsbereich nicht gelingen?

STANDARD: Ihr Vorschlag klingt nach einer Zukunftsvision. Apropos: Wie fanden Sie die Rede des Bundeskanzlers zur Zukunft der Nation?

Treichl: Ich weiß nicht, ob diese Rede Zukunftsvisionen beinhalten sollte. Vielleicht war das gar nicht beabsichtigt. Für mich klang es wie ein Arbeitsprogramm, das jemand vor einer Wahl aufstellt. Da waren durchaus ein paar gute Ansätze dabei, und ein paar, die mir nicht gefallen haben – etwa seine Vorstellungen zur Zukunft der Verbrennungsmotoren und zu Migration. Zudem war die Rede nicht eingebettet in eine Vorstellung davon, welche Rolle Österreich in Europa haben sollte und welche Rolle Europa in der Welt haben soll. Diese Komponente hat mir gefehlt.

STANDARD: Woran hapert es im Gefüge?

Treichl: Es gibt einen Systemfehler. Kein Politiker, keine Politikerin gewinnt Wahlen mit einem Thema, das für Europa wesentlich wäre. Längst müsste man sich für den Ausbau des europäischen Eisenbahnnetzes einsetzen, Hochgeschwindigkeitsstrecken bauen. Oder: Wir brauchen eine gesamteuropäische Lösung für Europas Pensionsproblem. Wir haben noch immer keine Bankenunion, wir sind Lichtjahre von einer Kapitalmarktunion entfernt. Aber versuchen Sie das zu thematisieren: Sie werden scheitern.

STANDARD: Aber was ist zu tun? Wahlen an sich können ja nicht der Systemfehler sein.

Treichl: Natürlich nicht. Wir bräuchten Menschen in der Politik, die eine klare Vorstellung haben, wohin es gehen soll, was wir alle davon haben, was es uns kostet und warum es allemal wert ist, darum zu kämpfen. Die Leut’ wünschen sich Orientierung.

STANDARD: Worum wäre es wert zu kämpfen?

Treichl: Was uns von den USA und auch dem Rest der Welt unterscheidet, ist immer noch der soziale Zusammenhalt – trotz der Schäden, die diesbezüglich die Pandemie angerichtet hat. Das ist eine hohe zivilisatorische Errungenschaft, das müssen wir erhalten. Wir brauchen einen strategischen Gesamtplan, der das im Blick hat. Und es muss viel mehr Solidarität der Länder untereinander geben – weil wir immer weniger Probleme allein lösen können.

STANDARD: Österreichs Regierung hat einiges unternommen, um diesen Zusammenhalt zu stärken – etwa mit Antiteuerungspaketen. Die Menschen sind dennoch unzufrieden. Warum?

Treichl: Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Man kann dieser Regierung wirklich nicht vorwerfen, dass sie nichts täte. Aber was lernen wir: Viel Geld auszugeben ist keine Methode, sich bei den Menschen beliebt zu machen. Diese sind stark verunsichert. Sie verlangen Orientierung. Ich glaube, langfristig hat Politik Erfolg, wenn sie es schafft, ein klar durchdachtes, wirklich gut kommunizierbares Konzept zu präsentieren und den Menschen zu vermitteln: "Wenn ihr uns wählt, gehen wir in diese Richtung." Und das muss man dann in aller Professionlität durchziehen.

STANDARD: Wie soll Österreich 2030 aussehen?

Treichl: Österreich sollte ein Land sein, das alle Voraussetzungen dafür hat, dass junge Menschen aus der ganzen Welt uns nicht nur besuchen, sondern hierherkommen und bei uns arbeiten wollen. Und wir uns aussuchen können, welche wir aufnehmen. Wenn uns das gelingt, hat es Österreich geschafft. (Petra Stuiber, 25.3.2023)