Wenn die schottische Nationalpartei SNP an diesem Montag ihre Nachfolgelösung für die zurückgetretene Vorsitzende Nicola Sturgeon bekanntgibt, wird die Inszenierung ähnlich perfekt ausfallen wie in den überaus erfolgreichen Wahlkämpfen der vergangenen Jahre. Doch können hochfliegende Rhetorik und hübsche Plakate in der Parteifarbe Gelb nicht über die tiefe Besorgnis in den Nationalistenrängen hinwegtäuschen. Mit der Dominanz in der schottischen Politik gehe es zu Ende, prophezeit James Kanagasooriam vom Marktforscher Focaldata: "Die SNP könnte bald in richtigen Schwierigkeiten stecken."

Allzu deutlich wurde in den Wochen seit Sturgeons überraschender Rückzugsankündigung, dass sich eine Ära sich dem Ende zuneigt. Das hat in erster Linie mit den großen Fußstapfen der zierlichen Ministerpräsidentin zu tun, einem der größten politischen Talente in der britischen Politik des 21. Jahrhunderts. Keiner ihrer drei Nachfolgekandidaten reicht annähernd an Sturgeons Statur heran.

Favorit Yousaf mit "mangelnder Kompetenz"

Als großer Favorit auf den Sieg in der Urwahl durch die rund 72.000 Parteimitglieder gilt der bisherige Gesundheitsminister Humza Yousaf. Der hat sich selbst zum "Kandidaten der Kontinuität" ausgerufen, unverkennbar ruht die Gunst der Parteispitze um Sturgeon auf dem 37-Jährigen. In der Bevölkerung scheint hingegen eher die brutale Bewertung durch Yousafs Hauptkonkurrentin, der bisherigen Finanzministerin Kate Forbes, Anklang zu finden: Dessen Wahl sei gleichbedeutend mit "Mittelmäßigkeit" und mangelnder Kompetenz.

Nicola Sturgeon zieht sich zurück, ihre Nachfolge gestaltet sich schwierig.
Foto: Reuters/Cheyne

Mit schöner Offenheit hat die Kabinettskollegin darauf hingewiesen, der Zustand des Gesundheitssystems sei ähnlich schlecht wie in England. Als Justizminister war der praktizierende Muslim für die Neufassung eines Gesetzes zuständig, das beleidigende Äußerungen gegen Minderheiten unter Strafe stellte. Nach Protesten von Lobbygruppen, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit fürchteten, musste das Gesetz hastig ergänzt werden.

Beliebt, aber konservativ

Die erst 32-jährige Forbes gilt als großes politisches Talent, ihr Beliebtheitswert in der Bevölkerung liegt höher als Yousafs sowie der dritten Bewerberin, Ex-Justizstaatssekretärin Ash Regan. Doch sind viele Schotten, nicht zuletzt die eher links stehenden Mitglieder der gemäßigt sozialdemokratischen Partei, misstrauisch gegenüber dem Mitglied einer Freikirche. Sie halte Sex außerhalb der Ehe sowie Abtreibungen für falsch, hat Forbes mitgeteilt; sie werde aber die geltenden Gesetze, darunter auch die Schwulenehe, verteidigen: "Ich glaube fest an die angeborene Würde jedes Menschen." Das klinge doch alles sehr rückständig gegenüber der "progressiven Mehrheitsmeinung", kritisierte Sturgeon ihre Ministerin.

Progressiv war unter der Regentschaft von "Königin Nicola" die Steuer- und Sozialpolitik. Einer Berechnung des Instituts für Fiskalstudien zufolge verfügt das ärmste Zehntel der Haushalte in Schottland über 658 Euro mehr als ihre Pendants in England und Wales. Finanzieren müssen dies die reichsten zehn Prozent der Haushalte: Sie stehen durchschnittlich 2.937 Euro schlechter da als im britischen Süden. "Kinder aus der Armut zu befreien", das sei die wichtigste Errungenschaft ihrer achtjährigen Amtszeit, sagt die Ministerpräsidentin.

Schattenseiten

Von den Schattenseiten spricht hingegen die Opposition: Nach insgesamt 16 SNP-Regierungsjahren hinkt die Lebenserwartung der Bevölkerung um drei Jahre hinter England her; schottische Schüler schneiden in Vergleichstests schlechter ab als junge Engländer oder Waliser; die Zahl der Drogentoten liegt dreimal so hoch wie im Rest des Königreichs, womit Schottland den Spitzenplatz in Westeuropa einnimmt.

Blamiert hat sich die Partei zuletzt mit dubiosen Finanzaffären und Halbwahrheiten gegenüber der Öffentlichkeit, für die mit seinem Rücktritt der langjährige SNP-Generalsekretär Peter Murrell, im Privatleben Sturgeons Ehemann, die Verantwortung übernahm. Nicht nur ermittelt die Kriminalpolizei wegen Unregelmäßigkeiten in sechsstelliger Höhe in der Parteikasse. Wochenlang hatte der Generalsekretär auch behauptet, die Partei verfüge noch immer über mehr als 100.000 Mitglieder. Dabei haben binnen 14 Monaten rund 30.000 Schotten die SNP verlassen, darunter wohl viele, die wie Regan Anstoß nahmen am neuen Transsexuellengesetz.

Auflösung der Union

Dass die konservative Londoner Zentralregierung unter Premier Rishi Sunak mit Hinweis auf die Gleichbehandlung aller Briten ihr Veto gegen die Edinburgher Vorlage einlegte, hat zu Sturgeons hastigem Rückzug beigetragen. Vor allem aber ist sie bei ihrem Hauptanliegen, der Auflösung der seit 316 Jahren bestehenden Union mit England und Wales, keinen Schritt vorangekommen. Das liege an ihrer allzu vorsichtigen Taktik, behaupten die Kritiker innerhalb und außerhalb der SNP. Radikalere Kräfte, angeführt von Sturgeons Vorgänger Alex Salmond, haben sich sogar in der neuen Partei Alba zusammengefunden, ohne allerdings Wahlerfolge zu erzielen.

Welchen Weg hätte Sturgeon gehen sollen? Die Volksabstimmung von 2014 (Ergebnis: 55:45 für die Union) sollte "für eine Generation" gelten, hieß es damals im Abstimmungskampf. Mit Hinweis darauf haben alle Tory-Premierminister dem Vorhaben eines zweiten Referendums eine Absage erteilt.

Der Idee, eine Abstimmung ohne die ausdrückliche Zustimmung des Unterhauses zu organisieren, erteilte im Herbst der Supreme Court unter Vorsitz seines schottischen Vorsitzenden eine eindeutige Absage. Dann werde eben die 2024 anstehende Unterhauswahl zum Referendum umfunktioniert, teilte Sturgeon trotzig mit, erntete dafür aber heftige Kritik von Verfassungsexperten und Hohngelächter der Opposition.

Implosion

Kandidatin Regan legt den Finger auf die Wunde, wenn sie sagt, man habe "keinen Fortschritt bei der Unabhängigkeit" gemacht, "trotz der schlechtesten britischen Regierungen seit Menschengedenken". Mit Bangen sehen die Nationalisten dem neuen Premier Sunak dabei zu, wie dessen ruhige Regierungsarbeit die Tory-Partei beruhigt und sich vorsichtig der EU annähert. Vor allem aber fürchtet die SNP den von allen Meinungsforschern prophezeiten Labour-Wahlsieg.

Oppositionsführer Keir Starmer hat Sturgeon höflich "einen Giganten schottischer Politik" genannt; die SNP aber sei dabei zu implodieren, "das sieht doch jeder". Immer wieder ist der Labour-Chef zuletzt in den Norden gereist, schließlich hängt sein erhoffter Wahlsieg nicht zuletzt davon ab, dem derzeit einzigen von 59 schottischen Mandaten wenigstens ein Dutzend hinzuzufügen.

Nach einem schwierigen Jahrzehnt scheint die alte Arbeiterpartei in Schottland wieder ein wenig Fuß zu fassen. Das ist nicht zuletzt Verdienst ihres regionalen Vorsitzenden Anas Sarwar. Dessen Vater war einst der erste Muslim im Unterhaus. Wenn nicht alles täuscht, wird sich Sarwar junior in Zukunft im Edinburgher Parlament mit seinem Glaubensbruder Yousaf messen – ein schönes Symbol gelungener Integration. (Sebastian Borger aus London, 27.3.2023)