Um die Richtwerte beziehungsweise speziell um den niedrigen Wiener Richtwert ist schon seit einigen Jahren ein heißer Kampf entbrannt.

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Vor wenigen Wochen wurden die Mietrichtwerte wieder einmal an die Inflation angepasst. Die Richtwerte der einzelnen Bundesländer legten im Schnitt um 8,6 Prozent zu; in Wien stieg der Richtwert von 6,15 auf 6,67 Euro pro Quadratmeter. Dieser Wert ist die neue Ausgangsbasis für die Berechnung der Altbaumieten und gilt seit April für Neuverträge, seit Mai für bestehende Mietverträge.

Doch um die Richtwerte beziehungsweise speziell um den Wiener Richtwert ist schon seit einigen Jahren ein heißer Kampf entbrannt. Wien hat den zweitniedrigsten Richtwert, die Berechnungsbasis für die Altbaumieten in der Bundeshauptstadt liegt damit um einiges niedriger als beispielsweise in Graz (steirischer Richtwert: 9,21 Euro) oder Linz (oberösterreichischer Richtwert: 7,23 Euro). Der Lagezuschlag auf den Richtwert spielt in Wien deshalb eine wesentlich wichtigere Rolle als in anderen größeren Städten.

Politischer Wille der Vergangenheit

Warum der Wiener Richtwert so niedrig ist, wurde hier bereits ausführlich beschrieben. Kurzfassung: Es lag an den höchst unterschiedlichen Berechnungsmethoden in den einzelnen Bundesländern. In Wien (und auch in Niederösterreich) wurde so gerechnet, dass nicht viel mehr als 50 Schilling pro Quadratmeter herauskamen. Nur das Burgenland hatte mit 46 Schilling einen noch niedrigeren Wert.

Die Richtwerte sollten eigentlich regelmäßig auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Ein dafür vorgesehener Beirat, der die Entwicklungen von Inflationsrate und Baukostenindex beobachten und bei einem mehr als zehnprozentigen Auseinanderdriften der beiden Indizes tätig werden sollte, wurde aber in den 2000er-Jahren abgeschafft. Seither werden die einzelnen Werte nur an die Inflation angepasst, im Verhältnis zueinander ändert sich nichts.

Interessanterweise, schreibt Wohnbauforscher Wolfgang Amann nun in einer Expertise, wäre die zehnprozentige Hürde erstmals 2018 überschritten worden – 24 Jahre nach Inkrafttreten des Richtwertsystems. Denn "deutlich über der allgemeinen Teuerung steigende Baupreise gab es zwischen 2006 und 2009 sowie von 2014 bis heute", in der restlichen Zeit hätten sich Inflationsrate und Baukostenindex parallel entwickelt.

Neuberechnung in drei Varianten

Doch wo würde der Wiener Richtwert eigentlich liegen, würde man ihn nun "im Sinne des Gesetzgebers von 1993" neu berechnen? Dieser Frage hat sich Amann angenommen, beziehungsweise sie wurde ihm gestellt: Für die erwähnte Expertise, beauftragt vom "Verein zur Revitalisierung und architektonischen Aufwertung der Wiener Gründerzeithäuser", hat er sich dieser Thematik gewidmet und einen neuen, aktuelleren Wiener Richtwert in drei Varianten durchgerechnet:

  • Variante A, "Marktbedingungen": Hier wurden Grundkosten von 1.000 Euro und reine Baukosten von 2.300 Euro angenommen. Wendet man mit diesen Preisen die im Richtwertgesetz genannte Formel zur Berechnung an, ergibt das einen Richtwert von 13,45 Euro.
  • Variante B, "geförderter Wohnbau": Hier lagen die Fördergrenzen in Wien zugrunde, die 2022 bei 250 Euro Grundkosten und 1.800 Euro Baukosten lagen. Mit diesen Werten als Basis ergab die Berechnung einen Richtwert von 8,66 Euro.
  • Variante C, "Kleinbaustellen": Für diese gelten "realistischere Grenzwerte", wie Amann schreibt – nämlich 2.100 Euro bei den Baukosten und die zuvor schon erwähnten 250 Euro bei den Grundkosten. Heraus kommt dabei ein Richtwert von 10,04 Euro.

Schwierige Dekarbonisierung

Selbst mit der moderatesten Variante würde also ein Richtwert herauskommen, der um etwas mehr als 40 Prozent über dem Wert lag, der zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Studie im Vorjahr gültig war (6,15 Euro). "Private Vermieter von dem Richtwertgesetz unterliegenden Wohnungen werden unverhältnismäßig belastet", heißt es im Fazit der Studie, denn es werden ihnen "Nettomieten zugestanden, die unter jenen bei Sozialwohnungen liegen".

Für ausreichend erschwinglichen Wohnraum sei durch das "international vorbildliche System aus Wohnbauförderung und Wohnungsgemeinnützigkeit" sowie den Wiener Gemeindebauten gesorgt, "der private Mietwohnbau kann und sollte andere Aufgaben erfüllen". Und insbesondere die "wirtschaftliche Machbarkeit" der notwendigen Dekarbonisierung des Gebäudebestands sei für Eigentümerinnen und Eigentümern von gründerzeitlichen Zinshäusern "unter den heute geltenden wohnrechtlichen Rahmenbedingungen" in weiter Ferne, lauten einige der Erkenntnisse der Expertise namens "Mietzinsbildung bei Wiener Gründerzeithäusern", die Amann gemeinsam mit Co-Autor Walter Tancsits verfasst hat.

Vorarlberg vs. Vorarlberg

Hier wäre diese Geschichte auch schon wieder zu Ende – beziehungsweise hätte sie erst gar nicht geschrieben werden können, wäre es rund um den Auftrag des Vereins an Amann nicht zu einem Rechtsstreit gekommen. Er gipfelte in einer Verhandlung am Bezirksgericht Josefstadt am 23. März dieses Jahres.

Die Expertise im Wert von 6.000 Euro war trotz der zitierten Erkenntnisse nämlich nicht so ausgefallen, wie man es sich in den Reihen des Auftraggebers vorgestellt hatte. Dabei habe Amann, akribischer Dokumentarist sämtlicher wohnbaurelevanter Vorgänge in Österreich, in den letzten 30 Jahren Studien für rund 140 Auftraggeber verfasst, wie er der Richterin an diesem Tag mehrmals erklärte. "Alle waren bisher hochzufrieden."

Einer aber nicht, es war ausgerechnet Amanns Vorarlberger Landsmann Kaspar Erath, Gründer und Obmann des "Vereins zur Revitalisierung und architektonischen Aufwertung der Wiener Gründerzeithäuser", pensionierter Polizeijurist und Zinshausbesitzer in Wien. Erath bekämpft seit rund zehn Jahren das Richtwertsystem vor diversen österreichischen und europäischen Höchstgerichten, bisher mit wenig Erfolg.

Von der Josefstadt nach Straßburg

Erath erzählte vor dem Bezirksgericht, dass er Amann mit dem Gutachten beauftragt habe, um damit vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EUGMR) in Straßburg gegen das Richtwertsystem zu Felde ziehen zu können. Doch er habe etwas anderes bekommen, als er bestellt hatte. "Als hätte ich einen VW wollen und einen Škoda bekommen."

Richterin Maria Stauder ließ diesen Vergleich jedoch nicht gelten. "So einfach ist es eben nicht, Herr Erath!" Es handle sich hier um höchst subjektive Ansichten, und es könne ja auch sein, dass das Gutachten einwandfrei gemacht wurde, es nun aber einfach für die Zwecke des Auftraggebers – den Gang vor den EUGMR – unbrauchbar sei.

"Richtwertsystem gehört reformiert"

Die Fragen seien also: Was hatten die beiden vereinbart? Und wurde der Auftrag letztlich vereinbarungsgemäß ausgeführt oder nicht? Diese Fragen würde sie aber wohl am Bezirksgericht nicht endgültig klären können, sagte die Richterin, es müsste zur Klärung weitere Gutachten geben. Nebeneffekt: "Das Verfahren wird viel mehr kosten." Besser und auch "wirtschaftlich vernünftiger" wäre es, wenn sich die beiden hier und jetzt einigten, empfahl die Richterin.

Unbestritten war von allen Anwesenden, dass das Richtwertsystem reformiert gehört; "das würden wir alle uns wünschen", sagte die Richterin. Denn letztlich habe das letzte Wort, ob bei einer Liegenschaft ein Lagezuschlag gerechtfertigt sei oder nicht, "immer der Oberste Gerichtshof". Lediglich Anwälte und Sachverständige würden von der derzeitigen Situation profitieren, meinte Amanns Anwalt David Rigger (Weinrauch Rechtsanwälte) schmunzelnd, und Eraths Anwalt Peter Abmayer widersprach ihm nicht.

Das große Feilschen

Das Feilschen um den Preis, den Erath letztlich für die Expertise zu zahlen bereit war, begann. Die Richterin drängte entschieden auf eine Einigung, bevor das ganze Verfahren mit Zeugenbefragungen et cetera erst so richtig losgehen würde. Ein Zeuge, Amanns Mitautor Walter Tancsits, wartete schon vor der Tür.

Amann wollte anerkannt haben, "eine tadellose Studie abgeliefert zu haben", ein wie auch immer geartetes Schuldeingeständnis kam für ihn nicht infrage. 4.500 Euro, sagte er – das sei dann für ihn schon bei weitem nicht mehr kostendeckend.

Erath bot an, 1.000 Euro zu zahlen, "oder von mir aus 1.500 Euro", das Geld hätte er aber am liebsten der Caritas gespendet. "Überpointiert" sei Erath manchmal, bemerkte sein Anwalt Abmayer. Von einer "Grundsturheit" sprach er außerdem, mit der wohl beide, also Erath und auch Amann, ausgestattet seien. Im Grunde seien sie sich recht ähnlich; trotzdem dürften die beiden wohl "im Leben keine Freunde mehr werden".

Zustimmung zur Veröffentlichung

Nach einer weiteren Runde des Feilschens war dann die Einigung mit 3.000 Euro schon recht nah. Amann verlangte zuletzt noch, dass er die Expertise veröffentlichen dürfe. Erath war dem nicht abgeneigt, erbat aber Bedenkzeit: Er müsse erst seinen gesamten Vereinsvorstand fragen. "Zustimmung nicht unmöglich, aber wir haben dort kritische Geister."

Letztlich hatten aber auch diese nichts dagegen, es kam zur Einigung. Die Expertise liegt dem STANDARD vor. Die Verhandlung ist geschlossen. (Martin Putschögl, 16.5.2023)