Proteste gegen den Ukraine-Krieg wurden in Russland meist schon im Keim erstickt. Das ist kein Zufall.

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Als 2017 tausende Jugendliche in ganz Russland demonstrieren und ihre Stimmen gegen Wladimir Putins vierte Amtszeit erheben, steuern sie ihre Proteste – selbstverständlich – digital. Genauso selbstverständlich treibt Alexej Nawalny, der damals 40-jährige Antikorruptionsaktivist, diese Proteste digital voran. Er verbreitet seine Botschaft über das Internet – vorbei an den staatlich kontrollierten Fernsehsendern, über die fast alle älteren Russen ihre Nachrichten beziehen.

Der Kreml kann die Demonstranten nicht aufhalten, alles geht zu schnell und zu digital. Aber Putins Leute können doch hunderte Menschen festnehmen lassen, einige von ihnen werden von einer Spezialeinheit auf der Straße niedergeschlagen. Mehrere Jugendliche werden rund ein Jahr später wegen politischer Postings auf Social-Media-Plattformen wie Vkontakte angeklagt, Mobiltelefone, Computer und Speicherkarten beschlagnahmt, der Vorwurf lautet meist: Anstiftung zur Hassrede und zu Extremismus.

"Paranoide" Sicherheitsdienste

Die Vulkan-Files sind Dokumente aus dem Inneren der russischen Cyberkriegsführung und Überwachung. Mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten aus acht Ländern haben die Daten monatelang ausgewertet, darunter auch DER STANDARD.
Montage: Lina Moreno / DER SPIEGEL, Fotos: Vulkan Files, Pallava Bagla / Corbis / Getty Images

"Russland sieht in sozialen Netzwerken eine große Herausforderung", sagt der russische Geheimdienstexperte und Investigativjournalist Andrej Soldatow, der an den Vulkan-Files-Recherchen beteiligt war. Schon während der sogenannten Moskau-Proteste 2011 und 2012 seien russische Geheimdienste mit Social Media überfordert gewesen. Sie sahen in ihnen das "magische Werkzeug" der Amerikaner, um die politische Stabilität in Russland zu untergraben. "Die russischen Sicherheitsdienste wurden sehr paranoid", sagt Soldatow. Und somit seien viele Ressourcen vom Kreml in die digitale Aufrüstung gesteckt worden.

"Der Schwerpunkt wurde auf die Verhinderung von sozialen Unruhen und Revolutionen gelegt, was bedeutet, dass man Unruhestifter identifizieren muss, bevor sie tatsächlich auf die Straße gehen und Unruhe stiften", so Soldatow. "Und dafür braucht man ein wirklich umfangreiches Überwachungsprogramm und muss einen Weg finden, diese Menschen anhand ihrer Aussagen und Beiträge zu identifizieren. Und wir haben seit 2012 viele Programme gesehen, die vom russischen Sicherheitsdienst in Auftrag gegeben wurden."

Seiner Einschätzung nach sind Systeme parallel entwickelt worden und ihr Einsatz teilweise an der Verarbeitung der riesigen Datenmengen gescheitert. Inwiefern dieses von Vulkan entwickelte System Teil des russischen Überwachungsprogramms des FSB, kurz SORM, ist, kann der Experte schwer einschätzen. Bei SORM werden Internet- und Telefondaten in Russland abgefangen und gespeichert.

Die "Buchliebhaber" als Auftraggeber

Für mindestens ein solches Programm war die Moskauer Softwarefirma NTC Vulkan verantwortlich. Das ergibt sich aus den Aussagen eines Firmeninsiders und aus Belegen aus dem Fundus der Vulkan-Files. Der Auftrag an Vulkan habe zuvor gelautet, so jedenfalls erinnert sich der Mann: Scannt die sozialen Netzwerke, sucht nach potenziellen Störern, und speichert alles zu diesen Personen in einer riesigen Datenbank. Das Projekt trägt laut Dokumenten aus den Vulkan-Files fortan den Titel "Фракция" oder "Fraction".

Der Auftraggeber? Jemand, der sich hinter dem Codenamen "Buchliebhaber" (russisch: Книголюбы) versteckt und in der Mjasnizkaja Uliza mitten in Moskau sitzt: im Zentrum für Informationssicherheit des Inlandsgeheimdiensts FSB. Das fast schon Geheimdienst-romantische Codewort "Buchliebhaber" erklären der Insider und der Geheimdienstexperte Andrej Soldatow so: Innerhalb des Gebäudes befindet sich die Buchhandlung Biblio Globus, die in Moskau offenbar sehr bekannt ist.

Dieses Zentrum für Informationssicherheit ist laut Andrej Soldatow "eine der wichtigsten Cybereinrichtungen des FSB". Über die Behörde sei eine Erzählung im Umlauf, wonach dort gern kriminelle Hacker, die in den USA oder Europa eingreifen, rekrutiert werden, sozusagen zwangsrekrutiert: Dort würden Informationen des FBI, der zentralen Sicherheitsbehörde der USA, eingehen, dann trete man an die Hacker heran, und schließlich stelle man diese vor die Wahl, erklärt Soldatow, "entweder Jahrzehnte im Gefängnis in den USA zu verbringen oder für den FSB zu arbeiten". Außerdem wird laut dem ukrainischen Geheimdienst die russische Hackergruppe Armagedon, ein Spezialprojekt, das sich insbesondere um die Ukraine kümmert, wohl ebenfalls von diesem Zentrum koordiniert.

Automatisierte Suche nach "Unruhestiftern"

In den Dokumenten der Vulkan-Files befinden sich nun Hinweise auf Aufträge zu verschiedenen Projekten, die mit diesem Zentrum für Informationssicherheit in Verbindung stehen. Besonders spannend ist das Projekt "Fraction". Dabei werden laut dem Insider mit einem sogenannten Crawler – einem Computerwerkzeug, das tausende russischsprachige Social-Media-Posts 24 Stunden am Tag automatisiert auffinden und als Textdatei speichern kann – Informationen herausgefiltert. Also beispielsweise zu den Autoren, zu der Frage, wo diese leben oder wo und wann eine Protestaktion stattfinden soll. Aber auch dazu, welche Reichweite ein Posting hat und wer es likt oder teilt. "Fraction" sucht und findet demnach Social-Media-Äußerungen von Menschen, die in der Öffentlichkeit weniger bekannt sind als Alexej Nawalny, Menschen, von denen der FSB noch nichts weiß – die aber in Zukunft zur Gefahr werden könnten.

Laut den geleakten Dokumenten arbeitete Vulkan etwa ab 2015 an dem Programm, in den Dokumenten befinden sich jedoch bis mindestens in das Jahr 2020 Auflistungen, in denen "Fraction" vorkommt. Ein Insider sagt, dass das Projekt in der Firma als Erfolg gewertet wurde, da der Kunde, der FSB, laut dem Projektleiter damit zufrieden war und "Fraction" wohl auch bereits im Einsatz gewesen sei.

Schwarze Listen

Dies legt auch eine auf Jänner 2020 datierte E-Mail aus den Vulkan-Files nahe. Leitender Kopf der Abteilung war bis zu seinem Ausscheiden aus der Firma Vulkan offenbar ein Mann namens Sergej N. – der inzwischen Russland verlassen hat und heute nach Recherchen des STANDARD für Amazon Web Services in Irland arbeitet. Dazu kontaktiert, möchte Sergej N. nicht Stellung zu seiner Arbeit für NTC Vulkan nehmen. Amazon teilte auf Anfrage lediglich mit, dass die Sicherheit seiner Kundendaten höchste Priorität genieße.

Für den Geheimdienstexperten Andrej Soldatow ist klar, dass ein Programm wie "Fraction" zur Überwachung russischer Bürgerinnen und Bürger durch den FSB beitragen kann und dazu, dass die schwarzen Listen sich weiter füllen. Soldatow geht aber noch weiter: "Wir haben jetzt hunderte Fälle, in denen Menschen nicht nur verhaftet und mit Geldstrafen belegt wurden, sondern sogar ins Gefängnis kamen, weil sie etwas in den sozialen Medien gepostet hatten. Es geht also auch um Repressionen, nicht mehr nur um Überwachung." (Maria Christoph, 3.4.2023)