Der Investigativjournalist Andrej Soldatow ist nicht zuletzt Experte zu russischen Sicherheitsdiensten und deren Überwachungsapparat.

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Der russische Investigativjournalist Andrej Soldatow (47) beschäftigt sich seit 1996 mit den russischen Geheimdiensten und dem Internet in Russland. Im Jahr 2000 rief er die russische Website agentura.ru ins Leben, auf der Journalistinnen und Journalisten kritisch über die Machenschaften des Kremls berichten. 2015 erschien sein Buch "The Red Web", in dem er gemeinsam mit der Journalistin Irina Borogan aufschlüsselt, wie Wladimir Putin in Russland das Internet überwacht. Wegen seiner Arbeit fühlte er sich 2020 gezwungen, seine Heimat Moskau zu verlassen, seither recherchiert er aus dem Westen. Für das Vulkan-Files-Rechercheteam analysierte er die internen Unterlagen des Geheimdienst-Zulieferers NTC Vulkan.

STANDARD: Herr Soldatow, wie hat sich das Internet in Russland unter Wladimir Putin verändert?

Soldatow: Es ist eine sehr traurige Geschichte. Seit über zehn Jahren versucht Putin, das Internet komplett zu kontrollieren, durch Zensur, aber auch durch die Nationalisierung der russischen Internetinfrastruktur. Putins Hauptidee ist Informationskontrolle. Er will zwar das russische Internet nicht komplett isolieren, weil viele Informationen der Regierung und von russischen Behörden dort verfügbar sind, aber er braucht die absolute Kontrolle darüber, um die politische Stabilität zu erhalten.

Die Vulkan-Files sind Dokumente aus dem Inneren der russischen Cyberkriegsführung und Überwachung. Mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten aus acht Ländern haben die Daten monatelang ausgewertet, darunter auch DER STANDARD.
Montage: Lina Moreno / DER SPIEGEL, Fotos: Vulkan Files, Pallava Bagla / Corbis / Getty Images

STANDARD: Ihre Familiengeschichte ist eng mit der Entwicklung des Internets in Russland verbunden. Ihr Vater spielte da eine maßgebliche Rolle.

Soldatow: Mein Vater brachte das Internet Anfang der Neunziger in die Sowjetunion. Er hat den ersten Internet-Service-Provider Relkom gelauncht. Dieser hat dann geholfen, den Coup d’État des KBG zu verhindern, indem sie unzensierte Informationen im Internet verbreitet haben. Ich selbst habe schon 1996 über russische Spione und die Interessen der Regierung im Internet berichtet. Damals war es komplett anders. Putin war noch nicht Präsident. Das Internet war absolut frei.

STANDARD: Wie ist das Internet heute?

Soldatow: Es ist vielleicht der letzte Ort, an dem die Russen noch etwas Freiheit haben. Ein Ort, der noch nicht komplett unter der Kontrolle der Regierung steht. Aber wir sehen aktuell, seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine, dass der Kreml immer aggressiver wird: Mehr Repression, mehr Zensur, mehr schwarze Listen, mehr Menschen werden attackiert, weil sie sich digital kritisch äußern.

STANDARD: Welche Rolle spielt das Internet in Putins Krieg gegen die Ukraine?

Soldatow: Es geht ihm um zwei Dinge: Innerhalb des Landes will er kritische Stimmen verstummen lassen und für ihn gefährliche Informationen aufhalten, bevor sie von Millionen Russinnen und Russen diskutiert werden. Außerhalb ist sein Hauptziel, Desinformationen zu streuen, um Menschen zu verunsichern. Als ich die Vulkan-Files zum ersten Mal gelesen habe, musste ich sofort an die Ukraine denken. Wegen der Informationskontrolle in den besetzten Gebieten. Das ist genau die Zielsetzung, die man Anwendern von solchen Systemen geben würde.

STANDARD: Was lernt die Öffentlichkeit noch durch die Vulkan-Files?

Soldatow: Die Unterlagen zeigen, dass die russische Regierung und das russische Militär besessen sind von der Idee der absoluten Informationskontrolle. Nicht nur außerhalb der Landesgrenzen, wo sie militärische Operationen durchführen, sondern auch im eigenen Land!

STANDARD: Was ist die gefährlichste digitale Waffe, die Russland hat?

Soldatow: Nun, ich bin kein Ex-Geheimdienstler, ich bin Journalist. Aber ich denke, der größte Vorteil, den die russische Regierung hat, ist: Sie weiß, wie man die Probleme in den Gesellschaften anderer Länder nutzt, um Situationen zu eskalieren, sie nutzt die Probleme, um Desinformationen zu verbreiten.

STANDARD: In welchen Regionen will Russland besonderen Einfluss haben?

Soldatow: Putin ist von Haus aus paranoid, weil er und auch andere frühere KGB-Männer sich nicht erklären können, was durch den Kollaps der Sowjetunion eigentlich passiert ist. Er glaubt, dass eine Revolution eine Art Krankheit ist, die die Russen anstecken könnte. Und je näher sie an Ländern sind, in denen eine Art Revolution passierte oder eine liberale Ordnung und Demokratie herrscht, umso gefährlicher. Er macht sich keine großen Gedanken um die Demokratie in Frankreich, dafür aber in Georgien und der Ukraine, in Kasachstan und den baltischen Staaten.

STANDARD: Warum sind Russlands Geheimdienste auf eine relativ kleine Firma wie NTC Vulkan angewiesen?

Soldatow: Geheimdienste und Militär haben natürlich auch interne Forschungseinrichtungen. Aber wenn man die Möglichkeit hat, die besten und schlausten russischen Ingenieure zu bekommen – und private Firmen haben die besten und schlausten –, und es gibt keine Sicherheitsbedenken, dann holt man die. Und Ingenieure sind qua Definition dem Staat gegenüber loyal.

STANDARD: Wieso ist das Ihrer Meinung nach so, können Sie das genauer erklären?

Soldatow: Zuerst muss man verstehen: In der Zeit des Kalten Krieges entstand in der Sowjetunion der militärisch-industriell-akademische Komplex. Stalin ließ tausende Fachhochschulen im ganzen Land errichten, um Ingenieure auszubilden, die seinem Militär und den Geheimdiensten dienen. Das hat Auswirkungen bis in die Gegenwart: An diesen Schulen werden Ingenieure heute mit derselben Mentalität wie damals ausgebildet: Sie sind dazu da, Befehle auszuführen. Für sie macht es keinen Unterschied, ob sie bei einer privaten Sicherheitsfirma arbeiten oder direkt für den FSB oder das Militär. Alle teilen das Gefühl, dem Staat helfen zu wollen.

STANDARD: Wie passt die Firma NTC Vulkan in dieses größere Bild?

Soldatow: Viele, die für die Firma arbeiten, sind Absolventen der berühmten Bauman-Universität in Moskau, der größten Ingenieurschule des Landes. In Moskau lebte ich nicht weit davon entfernt. Tausende Studenten kamen jeden Tag dorthin. Sie wird als Universität bezeichnet, ist aber eigentlich eine Fachhochschule, die extrem eng mit dem Militär vernetzt ist. Die bilden Ingenieure aus, die mit Panzern, Raketen und Technologien für das Militär arbeiten sollen.

STANDARD: Sie meinen, dass die Firma direkt Studierende von der Bauman-Universität rekrutiert?

Soldatow: Nicht nur das. Wenn man Kontakt zu Militär oder Geheimdiensten in Russland haben will, muss man Leute im Inneren kennen. Wo lernt man sich kennen? In der Universität. Dort kennt jeder jeden. Die Bauman-Universität produziert nicht nur spätere Ingenieure, sondern auch Geheimdienstgeneräle. Ich selbst kenne den ehemaligen stellvertretenden Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB, den Erfinder des Überwachungsprogramms SORM. Er war auch auf der Bauman-Uni.

STANDARD: Nach Angaben eines Insiders entwickelt die Firma ein System zur Überwachung der russischen Bürger für den Inlandsgeheimdienst FSB. Es geht offenbar darum, Aktivisten und Leute, die Proteste planen, zu identifizieren. Wie schätzen Sie das ein?

Soldatow: Schon 2011, als in Russland die sogenannten Moskau-Proteste starteten, sind viele Menschen in Moskau und St. Petersburg auf die Straßen gegangen, weil sie nicht wollten, dass Putin noch für eine weitere Amtszeit kandidiert. Der FSB wurde sehr paranoid. Sie sagten, das US-Außenministerium hat schon wieder ein neues magisches Werkzeug erfunden: Social Media. Der Zweck? Die Amerikaner wollen damit die politische Stabilität im Land untergraben. Damals gab der stellvertretende Leiter des FSB sogar zu, völlig ahnungslos zu sein, wie man mit den Herausforderungen durch Social Media umgehen soll. Also wurden viele Ressourcen von Militär, FSB und Kreml investiert, um Werkzeuge zu entwickeln, die sich dieser Herausforderung stellen. Und dafür braucht man ein wirklich umfangreiches Überwachungsprogramm und muss einen Weg finden, diese Menschen anhand ihrer Aussagen in Beiträgen auf Social Media zu identifizieren.

STANDARD: Ein Kunde von NTC Vulkan ist das Zentrum für Informationssicherheit des FSB. In den Vulkan-Files tauchen sie unter dem Tarnnamen "Buchliebhaber" auf. Welche Cyberattacken wurden von dort aus vermutlich gesteuert?

Soldatow: Das Gebäude wurde 2000 das Hauptquartier des Zentrums für Informationssicherheit des FSB, der größten Cybereinrichtung des FSB. Und in diesem Gebäude befindet sich eine sehr berühmte Buchhandlung, die Biblio Globus, und das Museum des sowjetischen Dichters Majakowski. Das hat eine gewisse Ironie. Das Zentrum für Informationssicherheit ist für eine bestimmte Sache berühmt: Innerhalb des FSB und der russischen Strafverfolgungsbehörden sind sie dafür zuständig, Hacker zu verhaften. Sie sind dadurch aber gleichzeitig auch in der besten Position, kriminelle Hacker einfach selbst zu rekrutieren. Lange Zeit war es also so: Das amerikanische FBI informierte die Russen, das FSB, über Operationen von kriminellen russischen Hackern in den USA oder Europa. Der FSB gibt die Informationen weiter an das Zentrum für Informationssicherheit des FSB. Und die Leute dort nutzen diese Informationen, um die Hacker zu kontaktieren und vor die Wahl zu stellen: Entweder werden Sie in die USA ausgeliefert, um womöglich Jahrzehnte im Gefängnis zu sitzen – oder sie fangen beim FSB an. Sehr schnell wurde dieses Zentrum also zur Brutstätte für kriminelle Hacker, die teilweise mit FSB-Offizieren Hand in Hand arbeiten.

STANDARD: Und was kann der FSB mit einem Programm zur Überwachung russischer Bürgerinnen und Bürger tun?

Soldatow: Die Hauptidee ist, Unruhestifter zu identifizieren und diese Geheimdienstinformationen mit Strafverfolgungsbehörden zu teilen, um Leute ins Gefängnis zu bringen. Es gibt hunderte Fälle, in denen Menschen nicht nur verhaftet und mit Geldstrafen belegt wurden, sondern sogar ins Gefängnis kamen, weil sie etwas in den sozialen Medien gepostet haben. Es geht also auch um Repressionen, nicht mehr nur um Überwachung.

STANDARD: In den Dokumenten taucht auch die Militäreinheit 74455 auf, die wegen weltweiter Hackingangriffe Schlagzeilen machte und als "Sandworm" bekannt wurde. Was bedeutet es, dass diese GRU-Einheit offensichtlich auch ein Kunde von Vulkan ist – nicht nur der FSB?

Soldatow: Es ergibt absolut Sinn. In der aktuellen Zeit gibt es keine strikte Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit. Der FSB hat mittlerweile eine eigene Abteilung für Auslandsaufklärung, die zuständig war, Putin vor der Invasion über die Lage in der Ukraine zu informieren. Gleichzeitig hat das Militär Ziele im eigenen Land. Russische Investigativjournalisten werden von GRU-Hackern mit Phishing-Mails attackiert, das ist alles sehr gut dokumentiert.

STANDARD: Bei einem System, das in den geleakten Dokumenten beschrieben wird, "Amezit", geht es vor allem um Informationskontrolle und die Umleitung von Internetverkehr. Können Sie sich vorstellen, dass die Regierung dieses System bereits nutzt?

Soldatow: Das, was wir in den besetzten Gebieten in der Ukraine sehen können, erinnert mich stark an Amezit. Es ist dieselbe Idee: Die Truppen marschieren in ein Gebiet, übernehmen die Kontrolle über die Kommunikation in dieser Region, versuchen, die Menschen, die dort leben, von der Außenwelt abzuschneiden, um ihnen gefilterte Informationen und Desinformation über den Krieg aus russischen Einrichtungen zu liefern. Das ist extrem gefährlich. Weil es geht nicht nur darum, Menschen zu brainwashen und sie loyal zu machen, sondern auch darum, "Unruhestifter" ausfindig zu machen in diesem Gebiet, die in sozialen Medien aktiv werden.

STANDARD: Was glauben Sie, was droht jemandem, der Dokumente wie die Vulkan-Files Journalisten zuspielt?

Soldatow: Sollte die Person aus Russland kommen, hat sie hoffentlich mittlerweile das Land verlassen. Was sie getan hat, ist extrem gefährlich. Ich spreche aus Erfahrung. Als die Invasion begann, schrieb ich einige Artikel über die Rolle russischer Geheimdienste in der Ukraine. Ich wurde sofort beschuldigt, Fake News über Russlands Militär und Geheimdienste zu verbreiten, und landete auf der Fahndungsliste. Dort steht mein Name jetzt seit Juni 2022.

STANDARD: Sie leben seit einiger Zeit in London. Fühlen Sie sich sicher?

Soldatow: Lassen Sie es mich so sagen: Ich fühle mich in London sicherer als in Moskau. (Maria Christoph, 30.3.2023)