Nach der Annexion der Krim-Halbinsel 2014 durch Russland versuchten der damalige französische Präsident François Hollande und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, den russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Verhandlungen über ein neues Minsk-Abkommen einzubinden und eine Eskalation des Konfliktes in der Ukraine zu verhindern. Es half nichts: Putin war gar nicht an einer friedlichen Lösung interessiert, wie Hollande im STANDARD-Interview erzählt.

François Hollande: "Lügen sind in der Politik häufig, aber bei Putin erreichen sie ein verblüffendes Ausmaß."
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STANDARD: In Europa herrscht heute Krieg. Hätten Sie sich, als Sie von 2012 bis 2017 Präsident im Pariser Elysée-Palast waren, eine so dramatische Situation vorstellen können?

Hollande: Nein, wer hätte damals voraussehen können, dass Putin eine so große Streitmacht aufstellen und in der Ukraine einsetzen würde? Als wir zusammen mit Merkel das Minsker Abkommen zwischen der Ukraine und Russland aushandelten, hofften wir, dieses apokalyptische Szenario vermeiden zu können. Aber in Putins Strategie seit 2012 gibt es diesen tiefgehenden Machtanspruch, diesen Willen, das Zarenreich oder die Sowjetunion wiederherzustellen.

Wir müssen die Ukraine militärisch unterstützen und gleichzeitig verhindern, dass die Waffen, die wir spenden, und die materiellen Mittel, die wir anbieten, auf russischem Territorium eingesetzt werden. Wir müssen eine Eskalation vermeiden, aber solange die Ukrainer für die Befreiung ihres Landes und die Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität kämpfen, stehen wir voll und ganz hinter ihnen.

STANDARD: In Ihrem Buch "Umwälzungen" beschreiben Sie Putins ersten Besuch im Elysée-Palast nach Ihrer Wahl, bei dem er auf einem Blatt Papier westliche Raketen zeichnete, die sein Land bedrohen würden – während er gleichzeitig selbst den Krieg vorbereitete.

Hollande: Als Putin 2012 an die Macht zurückkehrte, war er ein anderer als bei seinem Amtsantritt als russischer Präsident im Jahr 2000. Er wollte sich an der atlantischen Allianz rächen und die Grenzen Russlands bis an die Grenzen der Sowjetunion vorschieben. Er wusste noch nicht, wie er das anstellen sollte. Dabei setzte er darauf, dass sich die USA von der Weltbühne zurückzögen.

STANDARD: Sie schildern Putin als massiven Lügner.

Hollande: Lügen sind in der Politik häufig, aber bei Putin erreichen sie ein verblüffendes Ausmaß. Wie oft hat er gesagt, dass (der syrische Machthaber) Bashar al-Assad keine chemischen Waffen eingesetzt hat? Wie oft hat er mir gegenüber behauptet, er habe keine Verbindung zu den ukrainischen Separatisten, obwohl er sie bewaffnete? Wie oft hat er mir versichert, dass er keine Beziehung zur Wagner-Armee habe, obwohl deren Anführer Prigoschin ihm verpflichtet ist?

STANDARD: Eine Lüge – wonach die Ukrainer Nazis seien – hat sogar den Krieg gerechtfertigt.

Hollande: Die Lüge ist auch ein Element der russischen Propaganda. Putin weiß genau, dass die Ukraine eine Demokratie ist und dass ihre Armee nicht aus SS-Leuten besteht. Wenn er sagt, es gehe wie in Stalingrad gegen einen Invasoren – gemeint ist der amerikanische –, will er die Russen zum Widerstand anhalten.

STANDARD: Sie erzählten, der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko, ein Mann von großer Statur, habe während der Verhandlungen über das Minsker Abkommen Angst gehabt, dass Putin physisch zu weit gehen könnte.

Hollande: Ja, Putin setzt immer auf eine körperliche Beziehung zu seinem Gesprächspartner. Sein Blick, seine Haltung, seine Wutausbrüche – all das ist kalkuliert, um zu beeindrucken. Es ist Teil der Figur und der Kommunikation, die er aufgebaut hat. Angst zu machen ist Teil seiner Argumentation. Er weiß, dass wir an diese Art von Verhalten nicht gewöhnt sind, dass wir Konflikte nicht mögen, und doch müssen wir Entschlossenheit zeigen. Er versteht nur diese Sprache.

François Hollande: "Merkel und ich wollten so schnell wie möglich einen Waffenstillstand erreichen, da die von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine an Boden gewannen. Putin wollte die Waffenruhe aber vertagen. Er war bereits auf der Krim einmarschiert."
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STANDARD: Haben Sie bei den Minsker Gesprächen nach einer Gegenstrategie gegen diese kalkulierte Aggressivität gesucht?

Hollande: Merkel und ich wollten so schnell wie möglich einen Waffenstillstand erreichen, da die von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine an Boden gewannen. Putin wollte die Waffenruhe aber vertagen. Er war bereits auf der Krim einmarschiert, als Merkel und ich uns bemühten, die Integrität der Ukraine zu wahren und das Normandie-Format zur Beilegung der Krise zu stärken.

STANDARD: Gibt es heute noch eine andere Lösung als den Sieg der einen Seite und die Niederlage der anderen Seite?

Hollande: Für einen raschen Ausgang des Konflikts gab es schon zu viele Verbrechen, zu viel Zerstörung, zu viele Opfer. Putin glaubt, dass er noch einen Teil des ukrainischen Territoriums abknabbern kann, indem er auf die Mobilisierung von immer mehr Wehrpflichtigen zurückgreift – auch wenn diese demotiviert sind. Die Ukrainer wollen ihrerseits ihr gesamtes Territorium, einschließlich der Krim, zurückerobern. Die Lösung muss daher militärisch sein, bevor sie diplomatisch wird. Es steht weit mehr auf dem Spiel als nur das ukrainische Territorium.

STANDARD: Was denn?

Hollande: Wenn die Ukrainer die Oberhand gewinnen, wird dies nicht nur ein Rückschlag für Putin sein. Es wäre auch ein Zeichen, dass sich autoritäre Regime auch mit Gewaltanwendung nicht durchsetzen können. Das wäre eine wichtige Errungenschaft. Wenn Putin hingegen auch nur einen Quadratkilometer gegenüber der Vorkriegslage gewinnt, werden andere Länder denken, dass sie ebenfalls territoriale Gewinne erzielen können. Entscheidend wird, so denke ich, der Faktor Zeit sein.

STANDARD: Für wen spielt die Zeit?

Hollande: Putin setzt darauf, dass die Europäer müde werden, der Ukraine zu helfen, und dass die Sanktionen aufgrund der Energiepreise irgendwann die öffentliche Meinung ermüden. Er hofft, dass die USA 2024 einen anderen Präsidenten als Joe Biden wählen werden. Wenn ich höre, wie Donald Trump behauptet, er würde das Problem mit Putin innerhalb eines Tages lösen, fürchte ich, dass er Putin schnell geben würde, was dieser will.

STANDARD: Ist die prorussische Lobby in Paris verschwunden, oder versteckt sie sich heute?

Hollande: Sie schweigt. Früher behauptete sie, ich stünde selbst unter amerikanischer Dominanz, da ich mich weigerte, das Mistral-Raketensystem an Moskau zu liefern. Ein absurder Vorwurf. Aber Sie können sicher sein: Wenn sich die Situation in der Ukraine ändert, wird die extreme Rechte zusammen mit Pazifisten aller Art die Erste sein, die sagt, dass man der Ukraine keine Waffen liefern und sich so schnell wie möglich mit den Russen an einen Verhandlungstisch setzen sollte.

STANDARD: Ein Wort zu Ihrem deutschen Parteikollegen Gerhard Schröder?

Hollande: Er war nicht der einzige ehemalige Regierungschef, der einen verantwortungsvollen Posten in einem russischen Unternehmen annahm. Aber er war einer der letzten, die darauf verzichteten.

STANDARD: Hat sich Merkel von Putin täuschen lassen?

Hollande: Nein, Merkel ließ sich als eine von wenigen nicht beeindrucken. Sie verstand wahrscheinlich viel mehr von Putin und der Geschichte der Sowjetunion als andere. Merkel hielt Putin stand, was ich aufgrund zahlreicher Begegnungen, die wir hatten, bezeugen kann. Andererseits war sie selbst davon überzeugt, dass Handel, Energie und Austausch eine gute Methode sind, um bewaffnete Konflikte zu verhindern.

STANDARD: Das deutsch-französische Paar ist im Krieg geeint, aber es gibt große Meinungsverschiedenheiten – neben der europäischen Verteidigung etwa auch die Atomkraft. Was kann man tun, um das Tandem wiederzubeleben?

Hollande: Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir über unsere jeweiligen Entscheidungen hinaus wieder zu einem Geist des Zusammenhalts finden. Das Wichtigste ist, gemeinsam ein "Europa der Verteidigung" aufzubauen, das es uns ermöglicht, im Rahmen der Nato auf alle heutigen Bedrohungen reagieren zu können. Dies gilt auch für militärische Ausrüstungsprojekte, für Investitionen in die Cyberverteidigung und die technologisch fortschrittlichsten Waffen. Wir haben keine Wahl mehr: Frankreich und Deutschland tragen diese Verantwortung gemeinsam.

François Hollande: "Peking ist Putins wichtigster Verbündeter. Er hat 2012 eine uneingeschränkte Freundschaft mit Xi Jinping geschlossen, die intensiv und tief ist."
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STANDARD: Ist China im Krieg eher ein Verbündeter Putins als ein Vermittler?

Hollande: Peking ist Putins wichtigster Verbündeter. Er hat 2012 eine uneingeschränkte Freundschaft mit Xi Jinping geschlossen, die intensiv und tief ist, da sie denselben Gegner, die USA, definiert haben. China glaubt, dass es in jedem Fall gewinnen wird: Wenn Putin den Krieg in der Ukraine verliert, wird er noch abhängiger von Peking; wenn er ihn gewinnt, wird die Achse Moskau–Peking gestärkt. Darüber hinaus spielt China aber auch sein eigenes Spiel. Es hat kürzlich eine historische Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ochestriert. Mit solchen Initiativen übt Peking Druck auf die Schwellenländer aus, sich nicht dem Lager der Demokratien anzuschließen.

STANDARD: Stecken wir in einem Konflikt der Zivilisationen?

Hollande: Durchaus. China behauptet, kommunistisch zu sein, obwohl es das größte kapitalistische Land der Welt ist, und Putin hat keine andere Ideologie als seinen übersteigerten Nationalismus. Hinter ihrer gemeinsamen Abneigung gegen die USA steht die Anfechtung dessen, wofür wir stehen, nämlich von Demokratie und Freiheit. Wir Europäer sollten also nicht denken, dass es nur um das Schicksal der Ukraine geht. Es geht um universelle Werte.

STANDARD: Bekommt Frankreich diese Feindschaft nicht gerade in Afrika zu spüren? Also dort, wo Wagner-Russen zunehmend die französischen Soldaten ersetzen, die Sie selbst 2013 zur Bekämpfung der Jihadisten in Mali entsandt hatten?

Hollande: Die sozialen Netzwerke werden von den russischen Diensten bearbeitet, die antikolonialistische oder antifranzösische Slogans verbreiten. Darüber hinaus ist die Wagner-Gruppe nicht nur eine private Sicherheitsfirma im Dienste autokratischer Staatschefs, die sie anwerben, sondern auch ein Unternehmen, das die Ressourcen dieser Länder plündert. Aber ich denke, die Bevölkerungen werden im Laufe der Zeit bald merken, dass diese Entscheidungen zu ihrem Nachteil getroffen werden.

STANDARD: Kann Marine Le Pen in Frankreich bei der nächsten Präsidentschaftswahl im Jahr 2027 gewinnen?

Hollande: Schaut man sich ihr Wahlergebnis bei den letzten drei Präsidentschaftswahlen an, legt sie im ersten Wahlgang nicht wesentlich zu: 18 Prozent 2012, 21 Prozent 2017, 22 Prozent 2022. Die wirkliche Veränderung besteht darin, dass immer weniger Wähler Hemmungen haben, im zweiten Wahlgang für Le Pen zu stimmen – bis zu 42 Prozent im April 2022.

STANDARD: Was lässt sich gegen Le Pens Vormarsch tun?

Hollande: Die Lösung besteht nicht so sehr darin, an einen Anti-Le-Pen-Reflex zu appellieren. Er ist immer weniger wirksam. Hingegen müssen die Regierungsparteien wieder zu Bewegungen werden, die Hoffnung schaffen können, und neue Ideen für die großen Herausforderungen des Jahrhunderts anbieten. In Frankreich ist die Rechte zersplittert, und die Linke hat sich hinter ihrem radikalsten Flügel versammelt. Die Partei von Emmanuel Macron hat weder eine territoriale Basis noch eine etablierte Doktrin.

François Hollandes Ideen gegen Marine Le Pen: "Hoffnung schaffen, neue Ideen für die großen Herausforderungen des Jahrhunderts anbieten."
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STANDARD: Wären Sie bereit, bei der Präsidentschaftswahl 2027 das Steuer zu übernehmen?

Hollande: Ich möchte alle unterstützen, die sich für den Wiederaufbau engagieren. Ich stelle meine Person nicht in den Vordergrund, weil das nicht der richtige Weg wäre. Aber ich werde dabei sein.

STANDARD: Die aktuellen Proteste gegen die Pensionsreform sind massiv und virulent. Wie sehen Sie den weiteren Verlauf?

Hollande: Der Geist der Verantwortung auf Gewerkschaftsseite wird sich durchsetzen. Aber die Nachwirkungen werden zahlreich sein, die Ressentiments stark.

STANDARD: Wird Präsident Emmanuel Macron eine Fußnote in der politischen Geschichte Frankreichs gewesen sein, da sein Konzept des Weder-rechts-noch-links der politischen Polarität und dem politischen Temperament Frankreichs widerspricht?

Hollande: Macron hat es unterlassen, eine große Partei aufzubauen, die ihn politisch hätte überleben können. Nach ihm könnte Frankreich in der Tat zu traditionelleren Trennungslinien zurückfinden. Der große Unterschied wird sein: Vor Macrons Einzug in den Elysée-Palast gab es große Parteien, die diese Alternative repräsentieren konnten. Heute sind sie erheblich geschrumpft. Wenn wir also die Klammer schließen und die extreme Rechte verhindern wollen, müssen wir neue politische Familien aufbauen.

STANDARD: Die Nationalfigur – Marianne – ist weiblich wie "La France", während die französischen Präsidenten immer männlich waren. Wann wird eine Frau ins Elysée-Palast einziehen?

Hollande: Frankreich selbst ist das Geschlecht der Kandidierenden oder deren sexuelle Orientierung völlig gleichgültig. Der nächste Präsident wird eine Frau, ein Mann, ein Homosexueller, ein Heterosexueller – jemand, der geschieden ist, der wieder geheiratet hat, der Kinder hat oder keine hat, was auch immer. Die Franzosen sind in dieser Hinsicht sehr liberal. Was für sie zählt, sind die Auswirkungen des Wahlresultats auf ihr Leben und auf ihr Land. Das ist für sie einzig ausschlaggebend. Es liegt an uns, dass sie positiv für ein Projekt stimmen, nicht gegen eine angebliche Gefahr. (Stefan Brändle, 28.3.2023)