Zu den neuen Protesten am Dienstag fragten französische Hauptstadtmedien in Anlehnung an den berühmten Spielfilm "Paris brûle-t-il?" von 1966: Brennt Paris? Die Antwort lautet landesweit: ja, aber nur vor den Fenstern.

In der südostfranzösischen Stadt Saint-Etienne filmte ein Gast der Pizzeria Le Stromboli folgende Szene und verbreitete sie auf Twitter:

Das kurze Filmchen wurde vergangene Woche während eines Protesttags gegen die Pensionsreform aufgenommen. Vor den Fenstern brennen irgendwelche Objekte, zweifellos von Aktivisten in Brand gesteckt. Die Kunden des Restaurants essen seelenruhig weiter. Weil sie an solche Szenen gewohnt sind? Oder weil die Essenszeit in Frankreich heilig ist? Nicht nur.

Die Szene erlaubt Einblick in die französische Befindlichkeiten: Zur französischen Nonchalance, wenn nicht Lebenskunst gehört es, Missliebiges elegant zu übersehen. Die Welt ist nicht perfekt – und was einem nicht behagt, ignoriert man am besten. Vor allem um die Mittagszeit.

Sich nicht betroffen zu fühlen ist auch sehr französisch, etwa nach dem Motto: Was andere machen, geht mich nichts an. Nicht einmal in nächster Nähe. Die anderen können Mistkübel anzünden oder das Pariser Opéra-Viertel verwüsten: Solange ich nicht direkt betroffen bin, ist mir das egal. "Je m’en fous."

Solche Szenen sind möglich, weil die Zaungäste im Café wissen, dass die Proteste normiert sind und einen festen Rahmen haben. Mistkübel und Buswartehäuschen dürfen abgefackelt werden, auf dem Höhepunkt der Proteste sogar Polizeiwagen und Bankfilialen. Nie würde sich der Mob aber an Cafébesuchern oder Touristen vergreifen. Auch das Randalieren folgt Regeln, s’il vous plaît! Deshalb wird Paris auch nie richtig brennen.

Dennoch gibt es Grenzen

Dass es Grenzen gibt, zeigt sich gerade, wenn sie die Vertreter des "Schwarzen Blocks" verletzen. So war es 2018, als sie den Pariser Triumphbogen am Ende der Champs-Elysées verwüsteten; so war es auch jetzt, als sie in Bordeaux das historische Portal des Rathauses in Brand steckten. Das geht sogar für französische Verhältnisse zu weit.

Diese "casseurs" (Schläger) stören die eherne Protestordnung und genießen keine Sympathien. Aber ein kleines Feuer inmitten von Tränengasschwaden, das gehört zum französischen Streikritual und Stadtbild wie die Müllabfuhr, die den Boulevard mit Extrafahrzeugen säubert, sobald der Demonstrationszug vorbei ist.

Fünf Minuten später ist Paris wieder ganz die romantische, ewig hupende Lichterstadt. Und das wird sie auch wieder sein, wenn die Pensionsproteste erst einmal ausgestanden sind. (Stefan Brändle, 28.3.2023)