In seinem Gastbeitrag zeigt Rechtsanwalt Johann Schilchegger, welche schwierigen Situationen für Missbrauchsopfer beim Erben entstehen können.

Statistiken zeigen, dass gewalttätige und sexuelle Übergriffe auf Kinder hauptsächlich innerhalb der Familie stattfinden. Die Dunkelziffer ist überwältigend hoch. Dennoch lassen sich aus den veröffentlichten Studien und Zahlen Gewichtungen ableiten, die schockieren, aber eigentlich niemanden überraschen.

So dokumentiert etwa der Kriminalitätsbericht 2021 des österreichischen Innenministeriums für das Delikt des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen (Kinder unter 14 Jahren) einen klar überwiegenden Anteil von 52,9 Prozent aus familiären Täter-Opfer-Beziehungen. Die in diesem Jahr ermittelten Tatverdächtigen waren zu 74,8 Prozent älter als 25 Jahre und zu 97,3 Prozent männlich, die Opfer hingegen zu 79,6 Prozent weiblich. 25,7 Prozent aller betroffenen Kinder hatten noch nicht einmal das sechste Lebensjahr vollendet. Ein ähnliches Bild zeigt die Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2021 des deutschen Bundeskriminalamts. Sie weist für das Delikt des sexuellen Missbrauchs von Kindern einen Anteil der erwachsenen (über 18-jährigen) Tatverdächtigen beider Geschlechter von rund 69,9 Prozent aus, wobei sich bei 93,9 Prozent der Tatverdacht auf Männer bezog. Auch in Deutschland betrifft sexualisierte und sexuelle Gewalt an Kindern zu 74,4 Prozent primär Mädchen und unabhängig vom Geschlecht mit einem Anteil von 13 Prozent Kinder mit einem Alter unter sechs Jahren.

Wird aufgrund von Missbrauch in der Familie der Kontakt mit dem Täter gemieden, kann dies bei einer Erbschaft benachteiligende Konsequenzen für das Opfer haben.
Foto: IMAGO/Sascha Steinach

Einer Studie des Kriminologischen Instituts Niedersachsen aus dem Jahre 2012, aktualisierend aufgegriffen durch die Studie "Sexuelle Gewalt in der Familie" der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2021, ist zu entnehmen, dass bei sexuellem Missbrauch mit Körperkontakt die männlichen Familienangehörigen mit 49,1 Prozent dominieren, wobei sich die wenigen weiblichen Täterinnen nahezu ausschließlich an männlichen Opfern vergehen.

Vereinfachend lassen sich diese statistischen Daten dahingehend zusammenfassen, dass die Missbrauchsgefährdung von Mädchen unter 14 Jahren in Bezug auf erwachsene männliche Familienangehörige besonders stark ausgeprägt ist. Dieser Befund korreliert mit der üblichen Konstellation in Erbrechtsfällen. Auch hier überwiegt immer noch die Vermögenskonzentration bei den Patriarchen und handelt es sich bei den Erben und Pflichtteilsberechtigten primär um deren Nachkommen (neben Ehepartnern). Nur äußerst selten finden erbliche Vermögensübertragungen in umgekehrter Richtung statt.

Belastungen bei einer Erbschaft

Manchen Opfern gelingt es, ihren Peinigern später zu entkommen oder ihnen im Erwachsenenalter wenigstens mit ausreichender Distanz aus dem Weg zu gehen. Das mag im wahrsten Sinne ein "überlebenswichtiger" und alternativloser Schritt für Betroffene sein, ist allerdings nach den geltenden erbrechtliche Rahmenbedingungen eher unklug. Natürlich denkt in einer derart bedrängten Situation aber niemand ans Erbrecht. Umso überwältigender gestaltet sich später die neuerliche Konfrontation mit dem Täter nach seinem Ableben, selbst wenn es sich nur um – auf den ersten Blick – lästige Formalitäten handelt.

Manche haben ihre schrecklichen Erlebnisse in frühester Kindheit inzwischen weitestgehend verdrängt und merken erst im Laufe der Zeit, ihr steigendes Unbehagen richtig zu deuten. Erbrechtspraktiker und Erbrechtspraktikerinnen kennen Fälle, in denen großzügig bedachte Erbinnen geraume Zeit nach erfolgter Einantwortung der Verlassenschaft mysteriöse Krankheitssymptome entwickeln und nach mühsamer therapeutischer Aufarbeitung feststellen, dass sich in der geerbten Villa und/oder mit dem Verstorbenen vor Jahrzehnten offenbar traumatisierende Vorfälle ereignet haben dürften.

Selbst wenn über derlei Begebenheiten in der Kindheit völlige Klarheit herrscht, ist für Opfer meistens allein der Gedanke schwer erträglich, Erbin des Täters, also in rein rechtlicher Hinsicht dessen "Gesamtrechtsnachfolgerin" zu werden oder auch nur Zuwendungen aus seiner Verlassenschaft, also "von der kalten Hand" anzunehmen. Umgekehrt können es sich nur die wenigsten in finanzieller Hinsicht erlauben, darauf zu verzichten, und möchten sich wohl auch nicht veranlasst sehen, diesen für Nichteingeweihte geradezu absurden Schritt irgendjemandem näher erklären zu müssen.

Erbrechtliche Hürden

Nicht genug damit, eröffnet der österreichische Gesetzgeber engsten Verwandten unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, in Ungnade gefallene Nachkommen – was bei Missbrauchsopfern häufig der Fall ist – den ihnen zustehenden Pflichtteil auf die Hälfte zu reduzieren oder sogar gänzlich zu entziehen. Wer sich nämlich "zumindest über einen längeren Zeitraum" vor dem Tod des Verfügenden so weit vom Täter fernhalten konnte, dass kein Naheverhältnis mehr bestanden hat, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht, läuft Gefahr, die Hälfte seines Pflichtteils durch eine letztwillige Verfügung des Täters einzubüßen.

Das kommt laufend vor und gehört faktisch zum allgemeinen Standardrepertoire bei der Testamentserrichtung in belasteten Familienverhältnissen. Zwar entfällt dieses Recht auf Pflichtteilsminderung, wenn der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden oder berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat – beides ist in Täter-Opfer-Beziehungen naheliegend. Speziell bei sehr lange zurückliegenden Missbrauchsgeschehen haben Opfer vor Gericht aber denkbar schlechte Karten, dafür erforderliche Nachweise zu liefern.

Immerhin hatten sie während all dieser Jahre sprichwörtlich andere Sorgen, als sich taktisch auf den Erbgang nach dem Täter vorzubereiten. Abgesehen davon ist es in besonders schweren Fällen auch aus medizinisch-therapeutischen Gründen geradezu undenkbar, sich in langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen zu begeben und sich dort schließlich auch zu behaupten, von den finanziellen Herausforderungen ganz zu schweigen.

Frage des Verhältnisses

Bemerkenswert ist, dass der Gesetzgeber diese in der Praxis vor allem von Vätern vor- oder außerehelicher Kinder weidlich genutzte Möglichkeit der Pflichtteilsreduktion im Zuge der letzten Erbrechtsnovelle 2015 nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil sogar noch erleichtert hat. Während sie nämlich für Sterbefälle bis 31. Dezember 2016 nur dann verfügbar war, wenn das familiäre Naheverhältnis "zu keiner Zeit" bestand, ist seither eben auch ein "längerer Zeitraum" ausreichend, worunter nach herrschender Auffassung im Allgemeinen ein Zeitraum von mindestens 20 Jahren zu verstehen sei.

Wer sich also im jungen Erwachsenenalter von der Familie nachhaltig absentiert, muss Jahrzehnte später mit einer entsprechenden Passage in der letztwilligen Verfügung seiner ihm zur Pflichtteilshinterlassung verpflichteten Vorfahren rechnen. Nachdem mit Verstorbenen naturgemäß keine inhaltliche Auseinandersetzung mehr möglich ist und der Sadismus manchmal keine Grenzen zu kennen scheint, eignen sich letztwillige Verfügungen auch hervorragend zur einseitigen Darstellung historischer Vorkommnisse bis hin zur klassischen Täter-Opfer-Umkehr. Niemand kann sich wirksam dagegen zur Wehr setzen, und die übrigen Angehörigen frönen meistens wenig empathisch ihren Eigeninteressen, die sich perfekt mit den Intentionen des Erblassers decken, zumal dem Opfer bei Enterbung oder Erbunwürdigkeit nicht einmal der ihm an sich gesetzlich zustehende Pflichtteil entrichtet werden muss.

Dies kann anhand über Jahre hinweg zielstrebig gesammelter Beweise mit der Behauptung gelingen, das Opfer habe seinem Vorfahren in verwerflicher Weise schweres seelisches Leid zugefügt oder in anderer Weise seine familienrechtlichen Pflichten ihm gegenüber gröblich vernachlässigt, etwa durch die über Jahrzehnte hindurch ablehnende Haltung und ununterbrochene Abwesenheit während seiner Einsamkeit und Pflegebedürftigkeit in der Zeit vor dem Tod.

Zwar sind dieselben Möglichkeiten umgekehrt auch für Opfer gleichermaßen verfügbar. Allerdings spielt diese Variante im Regelfall allein deshalb keine bedeutende Rolle, weil die Familien-, Alters- und Vermögensverhältnisse üblicherweise so gestaltet sind, dass die bescheidene Verlassenschaft eines Missbrauchsopfers nur äußerst selten vor dem Täter abgeschirmt werden muss.

Kein Opferschutz vorhanden

Vor allem aber mangelt es Opfern, die seit frühester Kindheit Einschüchterungen ausgesetzt waren, häufig schlichtweg am nötigen Selbstbewusstsein, an innerfamiliärer Macht und nicht zuletzt an den erforderlichen finanziellen Möglichkeiten, um sich "auch noch" gegen die drohende Benachteiligung in erbrechtlicher Hinsicht auf die Füße zu stellen.

Im Verlassenschaftsverfahren gibt es keinen Opferschutz, und es herrscht grundsätzlich Dispositionsfreiheit der Parteien. Das heißt, man ist konfrontiert mit den Interessen aller anderen Beteiligten, bei denen es sich nicht selten um Mittäter, Mitvertuscher oder wenigstens Mitwisser und Opportunisten handelt, die mit dem Verstorbenen im Gegensatz zu seinem Opfer über viele Jahre hinweg in bestem Einvernehmen und in laufender strategischer Abstimmung gelebt haben.

Sich als Außenseiterin in diesen Kampf zu begeben fällt natürlich niemandem leicht, bietet sich manchmal aber auch als therapeutische "Rosskur" an, wie von jenen berichtet wird, die es schlussendlich doch geschafft haben, sich und ihre Interessen durchzusetzen. Jedenfalls aber handelt es sich um eine – vielleicht letzte –Gelegenheit, sich aus der Opferrolle zu lösen und einige Dinge ins rechte Lot zu rücken.

Fehlende rechtliche Berücksichtigung

An unsere Gesellschaft und an den Gesetzgeber ist die Frage zu richten, weshalb wir den Schutz frühkindlich traumatisierter Menschen nicht auf ihr weiteres Leben ausdehnen, was beispielsweise in erbrechtlicher Hinsicht wenigstens in Teilbereichen ohne weiteres schon durch die Entschärfung klar benachteiligender Bestimmungen möglich wäre. Eine Diskussion darüber gibt es – soweit ersichtlich – bislang nicht. Klar ist allerdings, dass die rechtlichen Dimensionen des Themas erheblich breiter gestreut sind, als die mediale Berichterstattung über Anlassfälle im Prominentenmilieu und die üblichen politischen Schnellschüsse dazu vermuten ließen.

Mit der Verschärfung strafrechtlicher Bestimmungen allein ist jedenfalls kein Auslangen zu finden, und natürlich herrschen abseits des Erbrechts auch in anderen Rechtsbereichen ähnlich unfaire Machtgefälle, die es abzumildern gälte – etwa im Unterhaltsrecht oder in Verjährungsbelangen. Ob, wann und gegebenenfalls in welcher Form die Politik hier jemals zu einer breit angelegten Analyse, geschweige denn zu problemadäquaten Lösungen finden wird, bleibt abzuwarten.

Bis dahin läge es an den Betroffenen selbst, sich in einer solidarischen Community zu verbünden und sich wechselseitig zu unterstützen. Es sind nämlich viele, und gemeinsam wären sie stärker! (Johann Schilchegger, 3.4.2023)