Flughäfen waren immer schon mehr als nur Infrastruktur für Reisende. Sie sind der Lebensalltag für diverse, auch marginalisierte Gruppen.
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Der französische Anthropologe Marc Augé hat in den 1990er-Jahren den Begriff "Nicht-Ort" geprägt. Er meint damit Infrastrukturen, die einer bestimmten Funktion dienen, aber als austauschbar, identitäts- und geschichtslos wahrgenommen werden. Shopping-Malls, Bahnstationen oder Flughäfen gehören dazu. Dieser Befund wird für die Betrachtung moderner urbaner Kulturen immer wieder aufgegriffen, zweifellos trifft er einen Punkt. Doch sieht man genau hin, sind diese Infrastrukturräume tatsächlich weniger "leer", als es die Zuschreibung als Nicht-Ort vermuten lässt. Einkaufszentren wurden etwa zu einem Ort von Jugendkulturen, und auch ist es im häufig frequentierten Supermarkt möglich, sich auf den Smalltalk mit der schon gut bekannten Kassiererin zu freuen.

Auch die Tagung "Alltagsgeschichten von Flughäfen", die vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz gemeinsam mit der Universität Wien, dem Deutschen Historischen Institut (DHI) Washington und unterstützt von der Stadt Wien veranstaltet wird, stellt das Bild des Flughafens als prototypischen Nicht-Ort infrage.

Neue Perspektiven

"Flughäfen sind ein Ort der Passagiere, die hier Zeit verbringen und interagieren. Sie sind ein Ort der Menschen, die jeden Tag gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen verschiedensten beruflichen Tätigkeiten nachgehen. Und sie sind ein Ort von Gruppen, die weniger im Mittelpunkt stehen: Obdachlose oder Vertriebene, für die der Flughafen vielleicht eine ganz andere Bedeutung hat als für Personal und Passagiere." So umreißt Nils Güttler vom Institut für Geschichte der Uni Wien eine inhaltliche Perspektive der Veranstaltung, die er mit Carolin Liebisch-Gümüş¸ vom DHI Washington und Britta-Marie Schenk von der Uni Luzern konzipiert hat.

Für Obdachlose bedeutet der Flughafen weit mehr, als nur eine Durchreisestation zu sein.
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Flughäfen werden gewöhnlich mit Beschleunigung, Fortschritt oder Globalisierung assoziiert. Folgerichtig spielen sie auch in globalen Krisen – Pandemie, Klimakatastrophe, Terrorismus – eine Rolle. Die lokalen Verbindungen stehen seltener im Fokus. Güttler selbst hat die regionale Verwobenheit sowie Umwelt- und Wissenschaftskontexte des Flughafens Frankfurt untersucht. "Mich erstaunt immer wieder, wie wenig die lokalen sozialen und ökologischen Aspekte rund um Flughäfen thematisiert werden – auch beim Flughafen Wien", betont der Historiker.

Asylsuchende im Fokus

Das Schicksal von Vertriebenen ist ein naheliegendes Untersuchungsgebiet für eine Alltagsgeschichte von Flughäfen. Durch den Film Terminal mit Tom Hanks gelangte das Thema bereits in den Hollywood-Mainstream. Carolin Liebisch-Gümüş zeichnet in ihrem Tagungsbeitrag die Geschichte des Frankfurter Flughafensozialdiensts (FSD) nach. Die kirchliche Organisation kümmerte sich hier ab 1975 um Asylsuchende und verstand sich als deren Fürsprecherin. Der Flughafen wurde durch das Engagement des FSD in den Augen der Zeitgenossen zu einem Hauptschauplatz der Asyldebatte, argumentiert Liebisch-Gümüş. Die Konflikte, die hier ausgetragen wurden, wirkten auch auf "größere politische Zusammenhänge" zurück.

Auch für Geflüchtete und, die teils tage- und wochenlang auf Flughäfen ausharren müssen, hat der Ort eine besondere Bedeutung.
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Neben einem Blick auf die Rassentrennnung auf US-Flughäfen der 1940er- und 1950er-Jahre oder Masseneheschließungen auf vietnamesischen Flughäfen, die die Ausreise von Flüchtenden ermöglichten, ist auch der Umgang mit Obdachlosen ein Thema. Britta-Marie Schenk untersucht, warum sich ab den 1990er-Jahren vermehrt Obdachlose aus Frankfurt am Flughafen aufhielten. "Ein zentrales Motiv bildete die Möglichkeit, nicht aufzufallen: Sie konnten sich unter internationale Rucksacktourist*innen mischen, die bisweilen ebenfalls am Flughafen übernachteten", schreibt die Forscherin im Abstract ihres Beitrags. Aber auch der Flughafen ergriff wie zuvor die Stadt Frankfurt Maßnahmen. Bis heute ist der Fraport für eine kleine Gruppe Obdachloser aber "ein Alltagsort" geblieben.

Fiktionale Anknüpfungspunkte

Neben Untersuchungen zum Alltag des DDR-Flugbetriebs, etwa wie die ostdeutsche Interflug um westliche Passagiere warb, sind auch fiktionale Anknüpfungspunkte ein Thema. Von der Technik-Versinnbildlichung der Flughäfen ist es nicht weit zu Raumfahrtinfrastrukturen und zu Science-Fiction-Vorstellungen, wie ein Leben im All, das Alltag geworden ist, aussehen könnte. Einen Schwerpunkt bilden ökologische Zusammenhänge in und rund um Flughäfen. "Enorm viele Tiere und Pflanzen mussten durch den Ausbau des Flughafens Frankfurt weichen. Es gab zahlreiche Naturschutzinitiativen", veranschaulicht Güttler.

Die Wiener Tagung wirft auch einen historischen Blick auf den Nicht-Ort Flughafen.
Foto: Imago, ETH Zürich

Gleichzeitig ist das Areal ein Schutzraum für manche Arten geworden. Die Natur wird hier überwacht, gemanagt und davon abgehalten, dass sie mit dem Flugverkehr – beispielsweise in Form von Vogelkollisionen – interagiert. Tiere sind aber auch Fracht und werden von Pflegepersonen und Veterinärfachleuten betreut." Der Anspruch des Flughafens, effizient mit Fracht umzugehen, muss bei diesem "Very Important Cargo" mit tierethischen Erfordernissen in Einklang gebracht werden, erläutern Güttler und Kolleginnen in einem Beitrag.

Schafe auf der Startbahn

Historisch betrachtet spielten – und das kommt vielleicht überraschend – Schafe eine wichtige Rolle auf Flughäfen. Viele der frühen Start- und Landebahnen wurden von diesen Tieren beweidet, die das Gras kurz hielten und den Boden festigten. "Während Gras und Schafe eine materielle Grundlage für technische Höhenflüge boten, gaben sie auch einen ästhetischen Rahmen, der die neue Technik in die regionale Kulturlandschaft und ihre Wirtschaft integrierte", erklärt Sonja Dümpelmann, die an der Universität Pennsylvania tätig ist. Auf die Areale der stillgelegten Berliner Flughäfen Johannesthal und Tempelhof sind die Schafe zurückgekehrt.

Flughäfen sind keine gewachsenen Städte, aber doch in vielfältiger Weise lokal verankert, mit ihrer Umgebung verwoben und von menschlichen Interaktionen geprägt. Es lohnt vielleicht, bei der nächsten Reise auch dem vielfältigen Leben im und rund um den Flughafen etwas Aufmerksamkeit zu schenken. (Alois Pumhösel, 29.3.2023)