Ein möglicher Fall von Selbstjustiz beschäftigt einen Geschworenensenat in Wien.

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Wien – Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann scheint fast Mitleid mit der Angeklagten G. zu haben, die sich wegen Mordversuchs vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Landesgerichtsvizepräsidentin Christina Salzborn verantworten muss. "Bei ihr gibt es eine sehr unglückliche Gesamtentwicklung", konstatiert der Experte in seinem Gutachten. "Ihre Biografie ist durchsetzt von Scheitern", stellt er fest.

Mit 16 lernte die in der Türkei geborene Österreicherin einen Mann kennen, den sie drei Jahre später heiratete. Der drängte sie, die Schule abzubrechen und stattdessen eine Lehre zu beginnen, die sie aber ebenso nicht abschloss: Über ihren Ehegatten war die Unbescholtene in Kontakt mit Heroin gekommen und selbst drogenabhängig geworden. Vom Heroin ist sie zwar weggekommen, andere legale und illegale Rauschmittel konsumiert sie aber weiter.

Am 11. Juli kaufte sie auf der Straße ein Gramm Cannabis, der Dealer drängte sie daraufhin bei einer Kirche in eine Ecke. "Ich bin mir sicher, dass er mich vergewaltigen wollte", sagt die Angeklagte vor Gericht dazu. Passanten wurden auf ihre Hilfeschreie aufmerksam und alarmierten die Polizei. G. wollte eigentlich zunächst keine Anzeige erstatten, machte dann aber doch eine Aussage. Der von ihr genannte Grund: "Es ist in einer türkischen Familie eine Schande. Man ist dann schmutzig."

Crystal Meth und Alkohol

Am 12. Juli ging sie in ein szenebekanntes Abbruchhaus in Wien-Ottakring, da sie von Herrn Hakan ein Handy kaufen wollte. Dort rauchte sie Pico, besser bekannt als Crystal Meth. Sie begleitete Hakan in seine Unterkunft, dort wurde Alkohol getrunken. Heute sagt G., sie habe über die Nacht Erinnerungslücken. Sie sei gelegentlich im Bett aufgewacht, dann wieder weggedämmert. An eines kann sie sich aber sicher erinnern, sagt sie unter Tränen: Der um 17 Jahre ältere Mann habe sie vergewaltigt.

Ein Indiz dafür kann Sachverständiger Hofmann liefern: Als der Angeklagten nach der Festnahme Blut abgenommen wurde, fanden sich darin Spuren von Schlafmitteln, die sie nicht besitzt. Dafür Hakan, der bei der Polizei einerseits behauptet hatte, es habe einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gegeben, und andererseits, G. habe ihn mit einem Medikament in seinem Getränk betäubt. Die Ermittlungen wurden eingestellt.

"Ich wollte schimpfen mit ihm"

Als sie am 13. Juli erwachte, nahm sie seinen Rucksack mit einer nicht registrierten Schusswaffe und alle Mobiltelefone, die sie finden konnte, und fuhr heim. Am Nachmittag kehrte sie zurück in das Ottakringer Abbruchhaus und traf sich mit einem Pärchen. Wieder trank man Alkohol, als plötzlich laute Stimmen zu hören waren – Hakan suchte nach ihr, um sein Eigentum zurückzufordern. Sie griff nach einem herumliegenden Obstmesser. "Um mich zu verteidigen. Er hat immer Waffen oder Messer dabei", behauptet sie vor Gericht. Dann ging sie in den Nebenraum, wo Hakan und ihr Ex-Freund auf Steinen saßen. "Ich wollte schimpfen mit ihm. Er hat mich ausgenutzt", schildert sie, warum sie Hakan unter anderem als "Hurensohn" titulierte.

Als sie vor ihm in der Hocke kniete, fiel die Reaktion nicht aus wie erhofft. "Er hat nur gegrinst. Mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie am Vortag, als er mich vergewaltigte", schluchzt sie. "Ich wollte ihm eine Lektion erteilen. Damit er das nicht noch mal macht. Aber ich wollte ihn nur leicht verletzen", bestreitet sie jede Mordabsicht.

Zunächst stach sie mit dem hinter dem Rücken versteckt gehaltenen Messer nicht sehr tief seitlich in den linken Oberschenkel des Opfers. Als der aufsprang, war sie schneller auf den Beinen. Laut Gerichtsmediziner Nikolaus Klupp wurde Hakan das Messer dann bis zum Anschlag in die linke Niere gerammt. Die Angeklagte sagt, sie wollte Hakan eigentlich in das Gesäß stechen. Angesichts der geringen Tiefe der ersten Wunde will Klupp auch nicht ausschließen, dass der Verletzte sich in einer Schutzbewegung auf das Messer zugedreht und so die Wucht erhöht hat.

Sachverständiger sieht keine Gefahr

Hakan selbst ging auf die Straße, ein Lokalbesitzer alarmierte Polizei und Rettung, was ihm wohl das Leben rettete. Denn wie Experte Klupp ausführt, wäre der 49-Jährige ohne Operation wohl innerlich verblutet. Psychiater Hofmann hält fest, dass G. zurechnungsfähig und nicht gefährlich sei. Schließlich sei sie unbescholten, und "diese besondere Verkettung von Ereignissen" sei eine Ausnahme.

Die Angeklagte telefonierte nach der Tat noch mit ihrem Bruder und sagte, dass sie einen Mann mit einem Messer verletzt habe, der Verwandte fuhr zum Tatort und überredete G., auch zu kommen und sich zu stellen, was geschah.

Während Staatsanwältin Anna-Maria Wukovits weiter an einen Mordversuch glaubt, verweist Verteidiger Mayer die Laienrichterinnen und -richter darauf, dass seine Mandantin das Opfer zunächst in den Oberschenkel gestochen habe. "Wenn ich jemanden, der vor mir sitzt, töten will, steche ich in Brustkorb, Hals oder Kopf", ist er sich sicher.

Einstimmiges Urteil der Geschworenen

Die Geschworenen sehen das ebenso. Vom Vorwurf des Mordversuchs und der absichtlichen schweren Körperverletzung sprechen sie G. einstimmig frei. Übrig bleibt die nicht rechtskräftige Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung, für die die Frau zwei Jahre teilbedingt ausfasst. Den unbedingten Teil von acht Monaten hat sie bereits in der Untersuchungshaft verbüßt, wie Salzborn ihr erklärt. "Das heißt, ich darf nach Hause gehen? Ich danke Ihnen herzlich! Oh mein Gott", sagt G. zu den Geschworenen und weint vor Freude und Erleichterung. (Michael Möseneder, 29.3.2023)