Ist nicht nur von der Statur her sehr nahe an Georges Simenons Original: Gérard Depardieu (li.).

Pascal Chantier

Diesem Kommissar geht hin und wieder die Luft aus. Allerdings nur in körperlicher Hinsicht. Denn selbst wenn Maigret in seinem ersten Kinoauftritt seit Jahrzehnten aus gesundheitlichen Gründen keine Pfeife mehr rauchen darf, die Sinne bleiben offen für die kleinsten Details der Umgebung. Wenn er eine junge Frau sieht, die sich mit dem Finger Haarlocken dreht, wie es eine tot aufgefundene Frau getan haben soll, verwickelt er sie in ein Gespräch, um sich ein Bild ihrer Welt zu machen und einen Gleichklang zu finden. Wenn er gefragt wird, wie er Verdächtige zum Sprechen bringt, antwortet er: "Ich höre nur zu."

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Das Credo, nicht urteilen, sondern verstehen zu wollen, teilte der belgische Schriftsteller Georges Simenon, der heuer 120 Jahre alt geworden wäre, mit seinem berühmten Kommissar. Es bestimmt auch Maigret, die schlicht, aber keineswegs bescheiden betitelte Adaption des 1954 entstandenen Romans Maigret und die junge Tote durch Regisseur Patrice Leconte. Mit einjähriger Verspätung ist darin Gérard Depardieu ab heute auf den heimischen Leinwänden als melancholischer Ermittler zu sehen.

Verstehen, nicht urteilen

Leconte gelang schon mit Die Verlobung des Monsieur Hire (1989), der Verfilmung eines der ersten Non-Maigret-Romane Simenons, eine überzeugende, eigenständige Adaption. Depardieu seinerseits verkörperte in Kommissar Bellamy (2009), dem letzten Film des erklärten Simenon-Verehrers Claude Chabrol, eine als Maigret-Hommage angelegte Figur. Das literarische Original ist in 75 Romanen und rund 30 Erzählungen zu finden. Mit über 30 Darstellern, die ihn in Kino- und TV-Produktionen gespielt haben, ist Maigret längst zu einem immer wieder neu überschriebenen Palimpsest geworden.

In Frankreich waren es vor allem Schauspielikone Jean Gabin mit drei Kinofilmen und Bruno Cremer mit über 50 Folgen einer TV-Serie, die das Maigret-Bild nachhaltig geprägt haben. Aber auch Deutschland hatte mit Heinz Rühmann seinen Maigret. In Italien griff der als Peppone bekannte Gino Cervi zu Hut, Mantel und Pfeife, in Großbritannien zuletzt mit erstarrter Mimik "Mr. Bean" Rowan Atkinson.

Viele Vorgänger

Dass der schon auf dem Filmplakat kolossal wirkende Depardieu zunächst manche Erwartung irritieren mag, zeugt vor allem von der Wirkungsmacht seiner Vorgänger. Tatsächlich beschreibt Simenon Maigret in seinen Büchern immer wieder genau so: als massigen, großen Mann, dessen behäbiges Äußeres die Umgebung dazu verleitet, ihn zu unterschätzen.

Wichtiger als sein Äußeres ist ohnehin Maigrets Sicht auf eine Welt, in der niemand ganz böse oder nur gut ist. In den desaturierten Filmbildern Yves Angelos findet sie ihre visuelle Entsprechung. Depardieu agiert mit äußerster Zurückhaltung und geht seiner Figur mit minimalen Gesten auf den Grund. Einer Figur, die in eine andere Welt entführt und doch mit uns allen etwas zu tun hat. So wie Maigret bei seinen Ermittlungen aus vielen Bruchstücken Bilder gewinnt, die wie in einem Entwicklungsbad an Konturen gewinnen, setzt sich auch Lecontes Maigret-Film aus feinen Beobachtungen und Referenzen zusammen. Im Fluss von entschlackten wie verdichteten 89 Filmminuten finden sich Spurenelemente anderer Maigret-Geschichten, aber auch hinzuimaginierte Details.

Kein Whodunit

Simenons Maigret-Romane sind keine klassischen Whodunits, weniger am Plot denn am genauen Beschreiben von Milieus interessiert. Leconte und sein Co-Drehbuchautor Jérôme Tonnerre führen dieses Prinzip konsequent weiter. Statt der für Simenon ungewöhnlich verwinkelten Auflösung der Buchvorlage bieten sie eine so simple wie plausible Erklärung für den Tod einer jungen Frau aus der Provinz an, die in Paris in neue soziale Sphären vordringt. Indem sie das Krimiprinzip vom als Unfall getarnten Verbrechen klug variieren, fokussieren sie auf das, worum es Simenon immer wieder geht: die Beiläufigkeit von Verbrechen. Leconte, Depardieu und Co haben auf diese Weise tatsächlich so etwas wie die Essenz des berühmten Kommissars herausdestilliert. Insofern trägt ihr Film den selbstbewussten Titel Maigret völlig zu Recht. (Karl Gedlicka, 30.3.2023)