Marc Almond setzt in seinen Liedern nur auf die allergrößten Gefühle – und natürlich auf Pathos.

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In seinen großen Zeiten während der 1980er-Jahre sang Marc Almond immer so, als ob er mit seiner Stimme die Welt verändern könnte. Ohne Rücksicht auf Verluste gab sich der Mann aus Nordengland dem Drama hin. Dieses hatte größer als das Leben zu sein. Bei der Kunst der von ihm damals in den Bands Soft Cell, Marc and the Mambas und bald solo praktizierten "Torch Songs", zu denen man auf gut Deutsch auch Schmachtfetzen sagen darf, handelt es sich um sentimentale Liebeslieder mit tragischem Ausgang.

Es ist egal, wer als Sieger aus einer gescheiterten Beziehung hervorgeht. Charakteristisch ist, dass der Sänger mit gebrochenem Herzen den sterbenden Schwan gibt.

Überleben ist wichtig

Immer in der Nähe der Tragödie angesiedelt ist auch die Karriere des heute 66-jährigen Mannes verlaufen. Der zählt zwar, mittlerweile mit dem Order of the British Empire der Holzklasse ausgezeichnet, nicht ganz zur Sir-Liga eines Elton John oder Mick Jagger. Wenn man seine Geschichte im aktuellen, vom britischen Journalisten Wesley Doyle zusammengetragenen Oral-History-Band Conform to Deform. The Weird & Wonderful World of Some Bizzare (sic!) durchliest, kann auch eine Tatsache als Sieg gelten: Marc Almond hat überlebt.

Soft Cell

Das Label Some Bizzare war Heimstatt von so einflussreichen – und künstlerisch extremen – Post-Punk-Acts wie Cabaret Voltaire, Jim Foetus, Psychic TV, The The, Swans oder Einstürzende Neubauten. Aufgrund des wahnsinnigen Firmenchefs Stevo fand sich dort der aus Leeds nach London gekommene Kunststudent Almond gemeinsam mit seinem Partner Dave Ball als Soft Cell in einem Irrenhaus wieder.

Das funktionierte zwar als kreatives Kraftzentrum. Leider aber wurden auch die finanzielle Oberaufsicht, die Vermarktung sowie die Versorgung mit dünn- und schlaflosmachenden Drogen dem Patienten im Chefsessel übertragen.

ScottishTeeVee

Das führte 1981 zum weltweiten Durchbruch von Soft Cell mit Tainted Love. Die kühle, minimalistische Synthiepop-Version Soft Cells, die gerade wieder in einer Fernsehwerbung zum Einsatz kommt, hätte als eine der am längsten dienenden Nummern in der Geschichte der US-Hitparade den Durchbruch in Übersee bedeuten können. Ein Angebot, die Platten von Soft Cell über das Label Mute von Daniel Miller vertreiben zu lassen, scheiterte aber daran, dass Miller kommerziell lieber auf die zeitgleich aktiv gewordenen Depeche Mode setzte. Der Rest ist Geschichte. Depeche Mode waren anfangs etwas flotter und cleaner unterwegs, das mit der Sünde und der Dekadenz und dem schwarzen Leder und den Drogen kam allerdings erst später.

Zeitlose Klassiker

Das Debütalbum von Soft Cell namens Non-Stop Erotic Cabaret von 1981 oder This Last Night in Sodom von 1984 und Singles wie Sex Dwarf waren dann doch eher im schmuddeligen und grindigen Rotlicht- und Darkroom-Milieu als in Top of the Pops zu Hause. Bis heute bleiben von Soft Cell allerdings wunderbar zeitlose Klassiker wie Say Hello, Wave Goodbye, Bedsitter, Torch, Loving You Hating Me oder Where the Heart Is.

SoftCellVEVO

Das schwule SM-Orgienvideo von Sex Dwarf erledigte neben körperlicher und seelischer Erschöpfung den Rest. Almond wandte sich mit Marc and the Mambas, etwa auf dem Album Torment and Toreros, und auch solo mit traditionellerer Instrumentenbegleitung inbrünstig der Verfeinerung seiner dramatischen Kunst zu. Neben einer Beschwörung seiner alten Helden Jacques Brel, Scott Walker, Lou Reed, David Bowie oder Gene Pitney gesellten sich auf Alben wie Mother Fist and Her Five Daughters und Vermine in Ermine auch weltmusikalische Einflüsse dazu. Flamenco, Arabesken, später russische Chöre, Hauptsache dramatisch.

Der beachtliche Backkatalog findet nun Eingang in seine Greatest-Hits-Tour. Neben Coverversionen von Jacques Brels Jacky oder Gene Pitneys Something’s Gotten Hold of My Heart und Black Heart von Marc and the Mambas findet sich jener Signature-Song, unter dem Almond zeit seines Lebens gelitten hat: Mit Tainted Love, diesem alten Versprechen einer Weltkarriere, scheint der Mann seinen Frieden gemacht zu haben. Und auch Say Hello, Wave Goodbye ist zu hören sowie eine Klavierballadenfassung von Purple Zone vom Comeback Happiness Not Included mit Soft Cell von 2022.

Electronic Music

Stimmlich hat sich einer der beseeltesten, gewollt ins Pathos kippende und noch immer brennende Sänger nach einer Covid-Erkrankung bestens erholt. Es wird ein großer Abend werden. Bis einer weint: "Tears run rings." (Christian Schachinger, 30.3.2023)