In seinem Gastkommentar kritisiert der Philosoph die Bioethikkommission, deren Mitglied er selbst ist. Eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie dürfe nicht bloß "simplifizierte Unterscheidung in Gut und Böse" sein.

Wie können Dialog und Versöhnung nach Corona gelingen? Die Pläne in Niederösterreich sorgen für heftige Kritik.
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Die Bioethikkommission betont in ihrer Stellungnahme zur Debatte über einen "Corona-Wiedergutmachungsfonds" "die Notwendigkeit und die Chance, die zweifellos vorhandenen Verwerfungen durch einen Prozess der Aufarbeitung der Pandemie auszugleichen". Sie rät dazu, "einen transparenten, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Diskurs" anzustreben, um "Wissen zu generieren, das für zukünftige Entwicklungen hilfreich ist", gibt aber keinerlei begründete Empfehlungen ab, wie ein solcher Diskurs aus (bio)ethischer Sicht zu gestalten wäre.

Schwarz-weiß-Schema

Auch wird der Vorwurf erhoben, "die jüngsten politischen Verlautbarungen und Debatten" seien "von einer Negierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse geprägt" und hätten damit "eine höchst bedenkliche, teilweise geradezu unethische Richtung eingeschlagen". In dieser Aussage wird jedoch übersehen, dass eine solche Tendenz spätestens seit Pandemiebeginn in diesem Land zu verzeichnen ist. Welche Vorstellung von Ethik hierbei angedacht ist, bleibt offen. Das Schwarz-weiß-Schema, die simplifizierte Unterscheidung in Gut und Böse, liegen auch dieser Stellungnahme zugrunde.

"Vernünftige Argumente werden nicht dadurch unvernünftig, weil sie von einer bestimmten ideologischen Seite kommen."

Diese Einseitigkeit setzt sich weiter fort: Die berechtigte Würdigung derer, die "jahrelang im Gesundheitswesen" an der Bekämpfung mitgewirkt haben, die vielen Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die "ehrenamtlich" die Regierung mit Daten und Erkenntnissen versorgt haben, finden explizite Erwähnung – aber kein Wort zu den (auch aus diesen Gruppen) Diskriminierten, den Andersdenkenden, die rational begründet einer Impfung skeptisch gegenüberstanden, oder jenen, die ihre sterbenden Verwandten und Freunde in Pflegeheimen und Spitälern alleine lassen mussten. Ganz zu schweigen von Ausgrenzungen und Anfeindungen, die bis zu Jobverlusten führten. (Dass die Androhung und Anwendung von Gewalt kategorisch abzulehnen ist, ist wohl als allgemeiner Konsens bei der ausstehenden Aufarbeitung vorauszusetzen.)

Vernünftige Argumente werden nicht dadurch unvernünftig, weil sie von einer bestimmten ideologischen Seite kommen, deren Grundausrichtung man durchaus nicht teilen muss. So kann man (und soll auch) das Arbeitsübereinkommen von ÖVP und FPÖ in Niederösterreich durchaus kritisch beleuchten, aber dass darin die Verpflichtung festgeschrieben wurde, die verhängten Kündigungen und Bewerbungssperren wieder aufzuheben, ist eindeutig ein Schritt in Richtung Aufarbeitung und Versöhnung, der leider bei all der vorgebrachten Kritik unbeachtet bleibt.

Religiöse Glaubenswahrheiten

Wer zudem übersieht, dass Wissenschaft ein prozessuales Geschehen ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse keinen unumstößlichen und endgültigen Charakter aufweisen, der verwechselt wissenschaftliche Evidenz mit religiösen Glaubenswahrheiten. Der von vielen Seiten erhobene Vorwurf der Wissenschaftsskepsis – die in Wahrheit eher ein Vertrauensverlust in die Politik, aber auch in die Wissenschaft selbst zu sein scheint –, ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Zunächst gehören Skepsis und Zweifel zu Grundvoraussetzungen wissenschaftlicher Tätigkeit, ja, sie bilden einen wesentlichen Bestandteil des wissenschaftsimmanenten Ethos. Dieses beruht des Weiteren auf den Prinzipien der Nachvollziehbarkeit, der Uneigennützigkeit, der Fehlbarkeit, der Diskursfähigkeit und der Anerkennung anderer Methoden und Ergebnisse. Dass die meisten für die Regierung tätigen Expertinnen und Experten keinen vorurteilsfreien Dialog öffentlich eingefordert haben, schadet ebenso wie deren intransparente Beauftragung durch die Politik.

"Wissenschaft darf sich weder durch machtpolitische Zielsetzungen noch durch ökonomischen Druck oder gar Versprechungen vereinnahmen lassen."

Verschiedene Wissenschaften haben verschiedene Forschungskulturen, und es besteht keinerlei Anlass, sich ausschließlich dem "reduktionistischen Szientismus" zu unterwerfen. Nicht umsonst hat der Soziologe Niklas Luhmann Statistiken als selbstgeschaffene Wirklichkeiten bezeichnet, die interpretiert und in Hinblick auf ihre Auswahl, Entstehungsgeschichte und Referenzwerte untersucht werden müssen. Dies gilt auch für die Medizin.

Wissenschaft darf sich weder durch machtpolitische Zielsetzungen noch durch ökonomischen Druck oder gar Versprechungen vereinnahmen lassen. Gegen Instrumentalisierungsbestrebungen aus Politik und Ökonomie keinen Widerstand zu leisten fällt auf die gesamte wissenschaftliche Community zurück. Für eine gelingende Aufarbeitung müssen die Rolle und das Verhalten von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern während der Corona-Pandemie ebenso analysiert werden wie jene der Politikerinnen und Politiker und der Medien. Hierbei könnten die Mitglieder der Bioethikkommission einen wirklich sinnvollen Beitrag leisten. (Peter Kampits, 30.3.2023)