Wolodymyr Selenskyj hält eine Rede vor dem österreichischen Parlament? FPÖ-Chef Herbert Kickl nennt das einen "Anschlag auf die österreichische Neutralität". Diese, meinte neulich die ÖVP-Ministerin Karoline Edtstadler, sei "identitätsstiftend".

Ihnen wurde entgegengehalten, unsere Neutralität sei Trittbrettfahrerei, sie überlasse die Landesverteidigung anderen und helfe letztlich – siehe Ukraine – dem Aggressor. Trotzdem ist der Neutralitätsstatus bei den Österreichern ungebrochen populär und gilt vielen tatsächlich als Identitätsmerkmal. Warum?

Weil wir gern unsere Ruhe haben, wenn anderswo "die Völker aufeinander schlagen"? Weil wir unseren Kuchen essen und gleichzeitig behalten wollen? Auch das. Aber es schwingt wohl auch noch ein nostalgischer Nachklang an die Zeiten mit, als die Donaumonarchie nicht wirklich ein Teil des Westens und auch nicht des Ostens war, sondern etwas dazwischen.

Am Donnerstag hält der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, eine virtuelle Rede vor dem Nationalrat. FPÖ-Chef Herbert Kickl spricht von einem "Störfeuer" gegen die Neutralität.
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Das neutrale Wien

Wir verstehen unsere östlichen Nachbarn aus historischen Gründen besser als die Engländer und die Franzosen, reden wir uns ein, wir wissen, wie sie ticken, und wir wären die idealen "Brückenbauer" bei allen West-Ost-Konflikten. Fachleute haben das längst widerlegt, aber wir glauben es noch heute.

Als Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy während des Kalten Krieges miteinander verhandelten, war das neutrale Wien der Begegnungsort. Und unter Bruno Kreisky gelang es tatsächlich, die Leitungen mehrerer internationaler Organisationen nach Wien zu bringen. Freilich, diese Zeiten sind vorbei. Und als der jetzige Bundeskanzler Karl Nehammer zu Wladimir Putin fuhr, um mit diesem über eine Verhandlungslösung im Ukrainekrieg zu reden, wurde das allgemein als eher peinliche Selbstüberschätzung wahrgenommen.

Neutralität als Identitätsmerkmal ist problematisch. Was macht dann aber wirklich die österreichische Identität aus? Lange Zeit half man sich mit einem "Land der Berge"-Patriotismus, in dem Österreich als unschuldige Insel der Seligen figurierte, mit Apfelstrudel und Walzerseligkeit, das mit der allein Deutschland zugeschriebenen Nazivergangenheit nichts zu tun hatte. Mit dem EU-Beitritt sind wir weltoffener geworden. Aber der angestammte kleinösterreichische Provinzialismus hängt uns immer noch nach.

Österreich als Einwanderungsland

In den letzten Jahren hat sich Österreich freilich in ein Einwanderungsland verwandelt. Jeder fünfte Bewohner der Republik und jeder dritte Wiener hat Migrationshintergrund. Die Politik tut alles, um den Zuwanderern das Leben so schwer wie möglich zu machen, aber das Zusammenleben funktioniert ungeachtet aller Probleme trotzdem erstaunlich gut. Und ein wenig von dem Flair der einstigen Donaumetropole mit ihren vielen Sprachen und Kulturen ist immer noch da. "Das ist etwas Besonderes", bemerkte vor kurzem ein Gast aus Deutschland. Die Wirklichkeit, so scheint es, ist hier der offiziellen Wahrnehmung voraus.

Beruht die österreichische Identität also auf Abschottung oder auf Vielfalt? Ist "Neutralität" womöglich ein Code-Begriff für etwas anderes? Vielleicht ist eine neue Identität erst im Entstehen. Resultat ungewiss. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 30.3.2023)