Strobl: "Die Idee der Vollzeitarbeit kommt aus einer rein männlichen Perspektive."

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Arbeitszeit, Bildung, Einkommen, Gesundheit oder Klima. Die Autor:innen Natascha Strobl und Michael Mazohl analysieren die Verteilungskämpfe in diesen Bereichen und erörtern, welche Folgen diese derzeit auf Frauen, Kinder ohne Akademikereltern oder Beschäftigte im Pflegebereich haben.

STANDARD: Ist der Begriff "Klassenkampf" wirklich noch zeitgemäß?

Strobl: Ja, man muss ihn sogar verwenden. Sicher kann man auch von Verteilungskämpfen sprechen, das ist nicht falsch. Aber das Prinzip dahinter ist immer ein Kampf; um Ressourcen, um Macht, um Einfluss. Darum, wer bestimmen kann, wie Gesellschaft funktioniert. Bei all dem verläuft die Spaltungslinie zwischen denen, die ihre Ressourcen, ihre Unternehmen einsetzen können, und denen, die einfach nur ihre Hände und ihre Hirne zum Arbeiten haben.

Mazohl: Der Begriff Klassenkampf wird gern abwertend benutzt. Es heißt oft, "das ist ja Klassenkampf" – und dahinter steht die Aussage: Wie kann man sich dazu noch herablassen? Allerdings sagen das meistens die, die was zu verteidigen haben.

STANDARD: In Ihrem Buch kommt auch das "neoliberale Denken" oft vor. Was verstehen Sie darunter? Ist es um den Begriff Neoliberalismus durch die aktuellen großen Krisen nicht viel leiser geworden?

Mazohl: Wir leben unbestreitbar in einem kapitalistischen System. Der Neoliberalismus ist der Glaube – und es ist wirklich ein Glaube – , dass der Markt allwissend ist und alles lenken soll. Es gibt aber kaum Menschen, die sich selbst als neoliberal bezeichnen. Neoliberal, das sind immer die anderen. Es stimmt, dass etwa seit der Pandemie neoliberale Stimmen leiser geworden sind. Aber die kommen jetzt ganz stark zurück.

Strobl: Es ist wichtig, die Zäsur ab Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre zu sehen. Bis dahin hat man versucht, durch Markteingriffe Gleichheit in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem herzustellen. Das ist ins Wanken geraten, und der Neoliberalismus hat alles dem Markt unterworfen, aus allem einen Wettbewerb gemacht. Nicht nur in der Wirtschaft, auch in einer Gesellschaft. Der Begriff hat sich eingebürgert, und deswegen verwenden wir ihn auch.

Natascha Strobl, Michael Mazohl: "Klassenkampf von oben. Angriffspunkte, Hintergründe und rhetorische Tricks". 29,90 Euro / 268 Seiten. ÖGB-Verlag, Wien 2023.
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Mazohl: Friedrich August von Hayek hat Margaret Thatcher persönlich beraten. Er war nicht nur der Mitbegründer des Neoliberalismus, sondern er hat sich auch die Instrumente überlegt, mit denen eine Gesellschaft neoliberal gestaltet werden kann. Zum Beispiel die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Thinktanks, das geht direkt auf Hayek zurück. Seit damals sind diese Thinktanks aus dem Boden geschossen, auch in Österreich.

STANDARD: Auch Sebastian Kurz und seine Rhetorik kommen in Ihrem Buch oft vor. Ist diese noch wichtig?

Strobl: Sebastian Kurz kam ja nicht aus dem Nichts, sondern er hat in seiner Rhetorik etwas nach außen gebracht, was immer schon in der ÖVP geschlummert hat. Kurz ist – bei allen Brüchen – doch ein Kind dieser ÖVP. Lange haben sich SPÖ und ÖVP in einer großkoalitionären Rhetorik in der Mitte bewegt, was letztlich auch zu einem Stillstand geführt hat. Kurz hat das großkoalitionäre Aushandeln und das Sozialpartnerschaftliche über Bord geworfen.

Mazohl: Es wurde auch schon während seiner Kanzlerschaft von einem "System Kurz" gesprochen. In den vergangenen Wochen ist dieses System wieder stark zurückgekehrt. Zum Beispiel über das Migrationsthema, das wieder als Nummer eins gespielt wird – als ob wir sonst keine Probleme hätten.

STANDARD: Arbeit ist ein zentrales Thema in Ihrem Buch. Seit Martin Kocher im Februar Einschränkungen der Sozialleistungen für Teilzeitkräfte vorgeschlagen hatte, wurde viel über Arbeitszeit diskutiert. Eine Studie hat gezeigt, dass das Gros der Frauen freiwillig Teilzeit arbeitet. Wenn jemand tatsächlich freiwillig weniger Lohnarbeit leistet – wäre das nicht fair?

Strobl: Aber was heißt denn freiwillig? Das erinnert mich immer an diesen Begriff der "Caffè-Latte-Mütter", die Kinder kriegen und sich ein schönes Leben machen würden – so, als ginge es einfach um eine Work-Life-Balance. Aber was heißt das? Work-Life-Balance heißt nicht das Selbstfindungsseminar auf Bali. Es heißt, nicht ausbrennen zu wollen, Zeit mit den Kindern und der Familie verbringen zu wollen, nicht ständig auf Großeltern angewiesen zu sein, die sich um die Kinder kümmern, nicht nur für die Arbeit leben. Ist das ein Luxusleben, oder ist es ein Leben, das man sich für alle Menschen wünscht?

Die Idee der Vollzeitarbeit kommt aus einer rein männlichen Perspektive. Jemand kommt von der Arbeit, daheim ist gekocht, die Kinder sind versorgt, die Einkäufe sind erledigt, und jemand hat auch noch an das Geburtstagsgeschenk für die eigene Mutter gedacht. Das geht aber nicht, wenn zwei Leute Vollzeit arbeiten. In dem Fall hat man entweder das Geld, um all diese Arbeiten auszulagern, und wenn nicht, kommt man ins Straucheln. Und da haben wir noch gar nicht von den zu pflegenden Angehörigen gesprochen, was in Zukunft ein noch größeres Thema werden wird. Die eigenen Eltern werden immer älter, zum Glück, aber sie brauchen dann Unterstützung. Dann wird es sehr schwierig mit diesem klassischen Vollzeit-Arbeitsmodell.

Mazohl: Aus einer Zeiterhebungsstudie wissen wir außerdem, wie ungleich unbezahlte Arbeit zwischen Frauen und Männern verteilt ist. Frauen leisten rund 60 Stunden unbezahlte Arbeit in der Woche, bei Männern ist es nicht einmal die Hälfte. Wenn man die Arbeitszeit auf 30 Stunden reduziert, würde sich das wahrscheinlich bessern.

STANDARD: Warum wurde trotz der sichtlichen Notwendigkeit von Verbesserungen bei Pflegeberufen, die die Corona-Krise gezeigt hat, so wenig gemacht?

Mazohl: Man muss sagen, dass der Kollektivvertrag der Sozialwirtschaft der erste Kollektivvertrag seit langem ist, wo eine tatsächliche Arbeitszeitverkürzung auf 37 Stunden durchgesetzt wurde. Das ist jetzt nicht wahnsinnig viel, aber es ist was. Das Problem im Pflegebereich ist, dass es ein Bereich ist, wo kein Profit gemacht wird. Lohnsteigerungen gibt es immer dort, wo es Profit gibt. Trotzdem wird auch in der Pflege alles kapitalisiert, es gibt einen klaren Schlüssel, wie viel man pro Bett bekommt. Der Arbeitsdruck hat stark zugenommen. Die Pflegekräfte sind weniger geworden, während immer mehr Leute dazukommen, die gepflegt werden müssen. Die Arbeitsbedingungen sind so schlecht, dass sich kaum eine Pflegekraft vorstellen kann, diesen Beruf bis zur Pension zu machen. Das ist ein Wahnsinn: Da lernt man diesen Beruf, und du weißt schon, dass man sich irgendwann was anderes suchen muss. Das Phänomen, dass mehr Beschäftigte die Pflege verlassen als einsteigen, hat sogar schon einen Namen: Pflexit.

Strobl: Bei sozialen Berufen kommt auch dieser starke persönliche Einsatz dazu. Wenn es hart auf hart kommt, dann lässt man jemanden nicht unversorgt liegen, sondern arbeitet noch eine Stunde weiter. Das ist eine unfaire Position, in die gerade Menschen in sozialen Berufen getrieben werden. Wenn jetzt immer mehr Leute den Pflegeberuf verlassen, wird die ohnehin schon vorhandene Lücke noch größer. Gesamtgesellschaftlich heißt das dann, dass wir alle ältere Verwandte pflegen müssen und in der Zukunft unsere Kinder uns. Wenn wir eine gesellschaftlich organisierte Pflege nicht hinbekommen, werden wir alle zu Pflegekräften, ob wir wollen oder nicht. Mit Pflege kann man keinen Profit machen, aber es ist eine gesellschaftliche Aufgabe.

STANDARD: Bildung ist ein weiteres Thema, mit dem Sie Verteilungskämpfe illustrieren wollen. Studien zeigen, dass es um die soziale Mobilität in Österreich nicht gut steht. Warum bewegt sich im Bereich Bildung so wenig?

Strobl: Weil alle gerne glauben, dass wir es aufgrund von Talent oder Fleiß geschafft haben. Und weil diese Diskussionen vor allem durch jene stattfinden, die selbst im Gymnasium waren oder sogar studiert haben. Doch anzuerkennen, dass die Herkunft bei Bildung eine große Rolle spielt, nimmt denen ja nichts weg. Es stimmt einfach nicht, dass Bildung vor allem mit Leistung und Fleiß zu tun hat. Aber das Argument, es muss ja nicht jeder alles machen und manche für eine Lehre besser geeignet seien, das hören Kinder aus Akademikerfamilien nie. Das hören nur die anderen. Das hat viel mit Standesdünkel und Elitedenken zu tun. Hinzu kommt, dass wir ein sehr defizitorientiertes Bildungssystem haben, das Kinder bei schon kleinen Fehlern aus dem System wirft.

Mazohl: Es wird oft darüber gesprochen, dass es in Österreich so etwas wie Chancengleichheit für alle Kinder geben soll. Ich glaube aber, dass das kein gesellschaftlicher Konsens ist. Ich bin selbst aus einem sehr bürgerlichen Haushalt, wo eigentlich alle vor mir Akademiker waren. Bei uns war nicht die Frage, ob ich studiere, sondern was ich studiere. Das hat viel mit diesem Denken zu tun, unter sich bleiben zu wollen. Damals waren es nicht die "Ausländerkinder", wir hatten nur ein Gastarbeiterkind in der Schule, sondern es waren die Arbeiterkinder, die man nicht im Gymnasium haben wollte.

STANDARD: Sie befassen Sich damit, wie Themen rethorisch gerahmt werden. Hierzu war vor allem im Zuge der Proteste von Klimaaktivist:innen zuletzt einiges zu beobachten, Stichwort "Klimakleber" bis "Klimaterroristen".

Mazohl: Angesichts der Möglichkeit der Auslöschung der Zivilisation muss man schon fragen: Welche Form des Protests ist angebracht? Vor allem, weil ja sonst schon alles probiert wurde. Ich glaube aber nicht unbedingt, dass mit dieser Protestform Mehrheiten geschaffen werden. Aber das Thema hat jetzt eine Aufmerksamkeit, die es schon lange nicht hatte. Die Framingversuche muss man zum Anlass nehmen, um genau das zu thematisieren.

Strobl: Die Klimakrise passiert nicht irgendwann, sie ist schon da. Hochwasser, Dürren, die ja nicht nur bedeuten, dass es mit 50 Grad runterbrennt. Im Herbst hatten wir auch in Österreich eine Dürreperiode, die für die Landwirtschaft, für das ökologische System und die Stabilität von Hängen und Straßen ein großes Problem ist. Es reicht nicht, wenn alle ein bisschen Tesla fahren und vegan leben. Und auch durch Innovation allein wird es nicht gehen. Es geht darum, wie produziert, wie transportiert wird, es geht um ein ganzes Wirtschaftsmodell. Ist einem dieses Modell wichtiger als die Idee, dass acht Milliarden Menschen eine Zukunft auf dieser Erde haben?

STANDARD: Aber wabert die Debatte derzeit nicht vielmehr um die Form der Proteste, als dass es um Inhalte ginge?

Mazohl: In Deutschland haben die Proteste schon genau dort stattgefunden, wo es direkte Umweltauswirkungen gibt, etwa Lützerath. Der Kohleausstieg wurde dadurch diskutiert. Sich festzuhalten – wenn auch nicht festzukleben – ist ganz klassischer Klimaprotest, der Fragen aufwirft, ob es wirklich Windräder sind, die die Landschaft verschandeln, oder doch vielmehr Kohlengruben. Das wird einem plakativ vor Augen geführt. Und in Wien wird schon auch diskutiert, wer eigentlich mit dem Auto in die Stadt kommt und warum man öffentlich etwa von Niederösterreich so schlecht in die Stadt kommt. (Beate Hausbichler, 31.3.2023)