Im Gastblog geht Sexualberaterin Nicole Siller anhand von Fragen auf wesentliche Aspekte innerhalb einer längeren Beziehung ein.

Vielen Dank an die Community für ihre Beiträge zu meinem Aufruf, Fragen an mich als Sexualberaterin zu stellen:

Eines der Themen, die sich aus diesen Beiträgen, aber auch aus anderen Kommentaren in ganz unterschiedlichen Facetten herauslesen lassen, ist, dass "Frau/Mutter keine Lust mehr hat". Hier ein Versuch der Klärung. Bevor ich auf Sex eingehen kann, greife ich ein paar grundlegende, ja, wohl wirklich unsexy Aspekte heraus, die oft im Weg stehen, jedoch essenzielle Basis im Miteinander sind: Organisation von Alltagskram mit Überlastung und Unterstützung, persönliche Kommunikation und Wertschätzung, geteilte Freude und Nähe, die zu Lust auf Sexualität führen können. Diese Punkte haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Der Alltag mit all seinen Anforderungen wirkt sich mehr auf unser Sexualleben aus, als wir vielleicht meinen würden.
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Frau/Mutter und ein frustrierter Mann

Ein paar Beiträge beschrieben frustrierende Situationen, gemeinsam haben sie einige Jahre Beziehung und Kinder und den Eindruck, "Frau will nicht mehr". Mann fühlt sich mit seinen Bedürfnissen nicht gesehen, schon gar nicht begehrt oder attraktiv. Ob "er" schon versucht hat, das Thema Sex aufzubrechen oder möglichst neutral anzusprechen, lassen wir mal dahingestellt, ich lese Frust, Ratlosigkeit und Distanz heraus.

Natürlich ist jede Situation individuell, es kann keine allgemeingültigen Rezepte für alle geben. So wie die jeweilige aktuelle Beziehungsdynamik, gefüllt mit verbindenden, trennenden und verletzenden Situationen, auf bestimmten Wegen entstanden ist, so kann sie am besten ganz individuell wieder verändert und verbessert werden. Trotzdem ein paar Anregungen, die generell Impulse geben können.

Voller Alltag für Männer und Frauen als Familie

Ich erlebe viele Menschen, die "das alles", also Elternrolle, Beruf, Haushalt, Familie et cetera, irgendwie gut hinbekommen, weil sie (nur noch) funktionieren. Der Alltag gelingt nur, weil – hier schreibe ich mehr aus Sicht von Frauen als Männern – diese sich selbst mit ihren Bedürfnissen nicht mehr spüren, um überhaupt alle Bälle in der Luft halten zu können. Das ist keine bewusste Entscheidung, es wird einfach zu viel, oftmals wird von einem selbst die Überlastung zu spät erkannt, dann, wenn es kaum noch oder gar nicht mehr geht. Das Gehirn ist ständig in Alarmbereitschaft, Mental Load heißt dies heute.

In einem "Überlebensmodus" sind körperliche Bedürfnisse, ist Lust auf Sex zumindest bei sehr vielen Frauen kaum noch spürbar. Wie organisiert sich der Alltag insgesamt, wie sind Verantwortungen geteilt? Ist es klar, wer sich worum verlässlich nicht kümmern muss?

Es gibt (schon etwas ältere) Studien darüber, dass ein essenzieller Punkt, der Lust auf Sexualität fördern kann, in der geteilten Verantwortung für Care-Arbeit und Haushaltspflichten liegt. Das hat viel mit Anerkennung und Wertschätzung, aber auch mit Entspannungsmöglichkeiten zu tun. Dazu später mehr.

Eltern und Paar sein

So wunderbar, unverzichtbar und bereichernd Kinder oft sind, sie brauchen und wollen auch viel Aufmerksamkeit, das ist gut so. In dieser Lebensphase legt unsere Natur den Fokus nicht auf lustvolle Sexualität, sondern auf "Nestbau und Aufzucht". Hier bräuchte es bewusst gewählte Rituale für zwei, um durch diese oft anstrengenden Jahre als Paar gemeinsam gut durchgehen zu können. Es braucht einen offenen Umgang mit den sich verändernden Situationen und Herausforderungen. Das passiert sehr oft nicht, Vorwürfe und Entfremdung liegen dann nahe. Viele fallen in eher klassische Rollen zurück.

Lust und Sex bewusst leben

Viele unterliegen der Erwartung beziehungsweise dem Trugschluss, dass der Sex langfristig von selbst spontan und lustvoll stattfindet. Selbst wenn der Sex am Beginn der Beziehung phänomenal sensationell war und es damals so war, dass man die Finger nicht voneinander lassen konnte, kann dies kein Dauerzustand sein, diese Hormonräusche würden wir Menschen dauerhaft nicht aushalten.

Alles, was wir leben wollen, ob Karriere, Fitness, Beziehung, Sex et cetera, braucht immer wieder Entscheidungen und bewusste Schritte, um unsere Sehnsüchte genießen zu können. Um Liebespaar mit Sex zu bleiben, braucht es selbstverständliche, verlässliche und entspannte Zweisamkeit, oft Leichtigkeit, Gelegenheiten, Erholung, gemeinsame Erlebnisse und Freude, die Bereitschaft, andere Sichtweisen und Bedürfnisse anzuerkennen und auch nicht alles auf sich selbst zu beziehen.

Wertschätzung zeigen

Ja, klar, irgendwann hat man ausgemacht, wer welche Verantwortung in der Beziehung erfüllt, das muss nicht täglich neu besprochen werden. Dennoch haben oft beide Teile eines Paares das Gefühl, dass der andere "keine Ahnung hat, was ich alles mache". Hier braucht es gute Kommunikation, liebevollen Perspektivenwechsel und gegenseitige Wertschätzung, Balance, Anerkennung. Geben und bekommen Sie diese? Förderlich ist auch das Wissen, dass es eindeutig leichter, freudiger, effizienter und sinnvoller ist, den Alltag miteinander als gegeneinander zu meistern. Wann haben Sie einander zuletzt gesagt, worüber Sie sich freuen?

Persönliche Kommunikation

Mit persönlicher Kommunikation meine ich, dass es für eine lebendige und lustvolle Beziehung unter anderem ein selbstverständliches, verlässliches Miteinander als Paar braucht, abseits von diversen zu erfüllenden Rollen als Eltern, dem Alltag mit all seinen To-dos. Gibt es ausreichend Zeit, Raum, Gelegenheit, wann darf es um persönliche, individuelle Bedürfnisse und Träume gehen? Um gemeinsame kleine und große Ideen und deren Umsetzung?

Neugier und Interesse ermöglichen

Könnte es wieder mehr um Frau/Mann/Mensch selbst gehen? Ich arbeite immer wieder mit vielen Frauen, aber auch Männern, die viel zu wenig Spielraum für eigene Bedürfnisse haben. Es reicht oft schon, wenn ein Partner den anderen "freispielt" und es klare Zeiten gibt, in denen einer die Elternrolle erfüllt, während der oder die andere "frei" hat, und zwar fix und selbstverständlich, ob zur Erholung, Freude oder Entspannung. Hat jeder Teil die Gelegenheit, spontan sein zu können oder einfach mal unverplante Zeit für sich selbst zu genießen? Dies ist sehr oft eine essenzielle Voraussetzung, um sich mal wieder selbst überhaupt spüren zu können, die eigenen Bedürfnisse, den Körper entspannt wahrzunehmen.

Oftmals flüchten sich Menschen in eine Affäre oder gar konsequent aus der Beziehung, einfach weil es "da draußen" endlich mal wieder nur um einen selbst abseits von allen Alltagsrollen gehen darf. Braucht es das wirklich, um sich selbst wieder als lustvollen, sexuellen Menschen zu erleben?

Da draußen geht es weder ums Geld noch die Kinder, den Müll oder angesammelte Verletzungen, sondern um ein Lächeln, Freude, Berührungen und Flirt, um Sex. Das könnte auch innerhalb einer Beziehung wieder gut gelingen.

Freiräume, die Lust auf mehr machen können

Wie wäre es, wenn Sie miteinander Gelegenheiten finden und schaffen, in denen Sie einander wieder möglichst abseits von Alltag begegnen können? Wenn diese zwei spannenden Individuen, die sich mal füreinander entschieden haben, die sich ineinander verliebt haben, einander wieder begegnen können? Dazu braucht es für beide vorher Möglichkeiten, die sinnvoll und nährend sind, um selbst wieder zum guten "sich selbst Spüren" zu kommen.

Begegnen Sie einander heute persönlich mit all den Erfahrungen und Jahren, die in der Zwischenzeit dazugekommen sind. Wenn nicht klar ist, ob beide noch liebevolle und sexuelle Wege zueinander suchen wollen, oder wenn das für Sie beide nicht mehr alleine schaffbar ist, holen Sie sich bitte Unterstützung von außen. Es braucht oft gar nicht viel, um einander wieder als zwei Menschen, die viel verbindet, persönlich und mit Freude begegnen zu können. (Nicole Siller, 7.4.2023)