Zwei Anläufe brauchte es, nun war es so weit: Virtuell hat sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag erstmals auch im österreichischen Parlament zugeschaltet. Es war der 400. Tag des Krieges in der Ukraine. Inzwischen hat Selenskyj unter anderem schon im US-Kongress, im Europäischen Parlament und in fast allen EU-Hauptstädten um weitere Hilfe gebeten. Gefehlt hatten neben Österreich nur Ungarn und Bulgarien, die beide eng verbunden sind mit Russland.

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DER STANDARD

Das hat in der Ukraine für Irritationen gesorgt und international dafür, dass Österreich einmal mehr ein peinliches Bild abgibt. Zurechtgerückt wurde es nun nur bedingt. Der erste Versuch einer Einladung vor einem Jahr war am Protest der FPÖ gescheitert. Die Freiheitlichen, die gute Kontakte nach Russland pflegen, argumentieren, die Liveschaltung sei ein "Anschlag" auf Österreichs neutralen Status. Sie verließen geschlossen den Saal – ein respektloser Akt.

Stille SPÖ

Die SPÖ äußerte im Gegensatz zum Vorjahr im Vorfeld nach außen hin keine Bedenken in Bezug auf die Neutralität. Jedoch fehlte während der Rede mehr als die Hälfte des roten Klubs – darunter auch die Parteichefin. Sie entschuldigte sich zwar aus Krankheitsgründen, allerdings spät und ohne Solidaritätsbekundungen. Pamela Rendi-Wagner ist Chefin und außenpolitische Sprecherin ihrer Partei. Dass so viele SPÖ-Abgeordnete offenbar aus stillem Protest fernblieben, ist eine unrühmliche Aktion – und zudem feig, weil sie ohne flankierende Erklärung passierte.

Eine Partei, die sich anschickt, Regierungsverantwortung zu übernehmen, muss Antworten finden auf die drängendsten Fragen unserer Zeit. Und diese müssen über die bloße Forderung, sich für Frieden einzusetzen, hinausgehen. Den wollen alle – mit Ausnahme des russischen Präsidenten, der betont, dass das Erreichen seiner Kriegsziele "absolute Priorität" über Verhandlungen habe.

Die FPÖ-Mandatare und -Mandatarinnen gingen, von der SPÖ waren einige gar nicht erst gekommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hielt eine Videoansprache im Parlament.
Foto: APA/Robert Jäger

Neutralitätsnarrativ

Auch die amtierende Regierungsspitze versagt dabei, die Konsequenzen zu diskutieren, die der Krieg für die heimische Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik mit sich bringt. Der Bundeskanzler hat die Debatte gestoppt, ohne sich inhaltlich mit ihr zu befassen. Die Regierung steht aufseiten der Ukraine, sie unterstützt sie humanitär, trägt die Sanktionen gegen Russland mit und betont immer wieder, dass die Neutralität eine militärische sei, keine politische.

Das ist gut und richtig, aber es ist nicht genug. Der Angriff auf einen souveränen Staat stellt eine Zäsur dar. Der Ukrainekrieg legt die Schwächen und Widersprüche im österreichischen Neutralitätsnarrativ offen. Beim Versuch, es zu erklären, eiern die politischen Vertreterinnen und Vertreter gehörig herum. Das liegt auch daran, dass die vielzitierte "Neutralitäts-und Friedenspolitik" nur möglich ist, weil wir implizit vom Schutz der Nato profitieren.

Das wird aber ebenso wenig offen ausgesprochen wie die Tatsache, dass wir nicht verteidigungsfähig sind – militärisch abhängig von dem Bündnis, zu dem wir partout nicht gehören wollen. Bündnisfreiheit alleine schützt nicht, das hat die Geschichte schon vor der Invasion der Ukraine gezeigt. Dass Diplomatie und Nato-Mitgliedschaft kein Widerspruch sind, lebt Norwegen seit Jahren vor. Dogmen zu hinterfragen ist unangenehm, aber es muss jetzt sein. Selenskyjs Auftritt erinnert daran, wie schnell militärische Verteidigung zu einer Frage des nationalen Überlebens werden kann. (Anna Giulia Fink, 30.3.2023)