Unendlichkeit ist schwer zu begreifen. Eine Idee davon liefern verspiegelte Räume wie dieser im Urwelt-Museum in Bayreuth.
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Seit vielen Generationen stehen Schülerinnen und Schüler an einem bestimmten Punkt des Unterrichts vor einem Rätsel. Die meisten vergessen den besonderen Moment schnell wieder, andere lässt er ein Leben lang nicht los.

Es geht um eine der einfachsten Rechenoperationen: die Division. Der Graph der Funktion 1/x scheint nahe dem Nullpunkt nach oben und unten ins Unendliche zu streben. Der Nullpunkt fehlt, durch null kann nicht dividiert werden, der Graph ist hier unterbrochen. Dort, wo der Funktionswert sich diesem verbotenen Punkt nähert, scheint etwas zu passieren, das unseren Horizont übersteigt.

Später kommen Schülerinnen und Schüler immer wieder in Kontakt mit dem Unendlichen, etwa wenn es um periodische Dezimalzahlen mit unendlichen vielen Kommastellen oder um die wunderschönen selbstähnlichen Muster von Fraktalen geht. Das damit verbundene seltsame Bauchgefühl wird im Unterricht nicht immer thematisiert, dafür fehlt angesichts des straffen Lehrplans die Zeit.

Doch ein außergewöhnlicher Schulversuch in den USA ging in den 1960er- und 1970er-Jahren einen anderen Weg. Der US-amerikanische Mathematiker Jerome Keisler thematisierte das Unendliche nicht nur, sondern baute sogar wesentliche Teile des Unterrichts darauf auf. Er benutzte dazu eine erst wenige Jahre zuvor entdeckte revolutionäre Theorie, die zeigt, dass die aus der Schule bekannten Zahlensysteme problemlos um unendliche Größen ergänzt werden können und mit ihnen wie mit normalen Zahlen gerechnet werden kann.

Null durch null?

Besonders prominent begegnet Schülerinnen und Schülern das Unendliche in Form des unendlich Kleinen. Die Differenzial- und Integralrechnung bedient sich sonderbarer Größen, die "dx" oder "dy" genannt werden. Lehrpersonal steht an solchen Tagen zuweilen der Angstschweiß auf der Stirn, liegen doch unangenehme Fragen, ob diese Größen mit dem "d" davor nicht unendlich klein seien, auf der Hand. Meist ist die Antwort, dass diese Vorstellung in der heutigen Mathematik überholt sei. Früher sei das geschehen, aus dieser Zeit stamme die Schreibweise, doch das sei nicht mehr zeitgemäß.

Diese Schreibweise stammt von niemand Geringerem als dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz. Er stand bei der Entwicklung der Differenzialrechnung, die später zur Basis der gesamten Welt der Physik mit all ihren Errungenschaften werden sollte, im Wettstreit mit Isaac Newton. Die Auseinandersetzung gipfelte in einem Plagiatsverfahren, das Newton angestrebt hatte, weil er Leibniz vorwarf, seine Ideen gestohlen zu haben. Das ist heute historisch als Lüge entlarvt, doch Leibniz wurde verurteilt und fiel zu Lebzeiten um einen guten Teil seines Ruhms um.

Newton soll einmal als seine größte Genugtuung bezeichnet haben, Leibniz das Herz gebrochen zu haben. Der Wissenschaftserklärer Florian Freistetter bezeichnete Newton in einem seiner Bücher folgerichtig als "Arschloch". Für die britische Mathematik war das ein Problem, setzte sich die Leibniz'sche Schreibweise doch schnell international wegen ihrer einfachen Handhabung durch. In Großbritannien, wo man auf Newtons Notation beharrte, zögerten Gelehrte die Anpassung hinaus und verloren Jahre in der Entwicklung.

Gottfried Wilhelm Leibniz gilt heute gemeinsam mit Isaac Newton als Begründer der Infinitesimalrechnung.
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Erfunden haben Leibniz und Newton das Rechnen mit unendlichen oder unendlich kleinen Zahlen nicht. Früheste Spuren finden sich bereits bei Archimedes. Später taucht Idee bei Johannes Kepler wieder auf, der sie nutzte, um den Inhalt von Fässern zu bestimmen, womit er das mathematische Konzept der Integration vorwegnahm. Konkret beobachtete er eine simple Methode eines Weinhändlers, der in Linz mithilfe eines eingeführten Stabes das Fassungsvermögen von Weinfässern berechnete. Diese Ergebnisse inspirierten wiederum den Geometer Bonaventura Cavalieri, der die Idee unendlich kleiner Größen weiterentwickelte. Auch René Descartes befasste sich mit der Idee, bei ihm ist die Seele des Menschen in einem unendlich kleinen Punkt in der Zirbeldrüse konzentriert.

Mathematik statt Kloster

Das erste umfassende Lehrbuch zur Infinitesimalrechnung wurde von einer Italienerin mit abenteuerlicher Biografie verfasst. Die 1718 in Mailand geborene Maria Agnesi galt als Wunderkind, was das Lernen von Sprachen anging. Im Alter von fünf beherrschte sie das Französische, im Alter von neun rezitierte sie in Latein. Ihr wohlhabender Vater, ein Händler von Seide, ließ ihr die bestmögliche Erziehung zukommen. Später wandte sie sich der Mathematik zu, von der sie sich sicheres Wissen erhoffte. Ihr Wunsch, ins Kloster zu gehen, erfüllte sich nicht, weil sie zu Hause auf ihre 20 (!) jüngeren Geschwister aufpassen musste und die Erziehung und Ausbildung übernahm.

Maria Gaetana Agnesi schrieb ein hochgelobtes Buch über Infinitesimalrechnung, das Kaiserin Maria Theresia gewidmet war.
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Das überzeugte sie von der Notwendigkeit eines verständlichen Lehrbuchs über Mathematik, das auch aktuelle Entwicklungen abbilden sollte. Ihre "Grundprinzipien der Analysis" erschienen 1748 in lateinischer Sprache. Das Werk, das sie Kaiserin Maria Theresia widmete, die ihr als Anerkennung einen Dankesbrief und eine diamantenbesetzte Schachtel samt Ring schickte, erregte international Aufmerksamkeit und wurde von Fachleuten hoch gelobt, die ihr Staunen darüber zum Ausdruck brachten, wie sie trotz der Hemmnisse, die das weibliche Geschlecht mit sich bringe, das abstrakte Gebiet so tief durch durchdrungen habe. Die Universität Bologna ernannte sie daraufhin zur Professorin für den Lehrstuhl für Mathematik, als erste Frau in einer solchen Position.

Doch Agnesi, die immer wieder mit psychischen Problemen kämpfte, interessierte sich nicht für die Stelle, sondern widmete sich nach dem Tod ihres Vaters karitativen Tätigkeiten. Sie gründete ein Krankenhaus und verschenkte letztlich all ihr Hab und Gut, bis sie im Alter von 80 Jahren verarmt starb.

Worum es sich bei den unendlich kleinen Größen genau handelte, blieb dennoch rätselhaft, beim Rechnen mit ihnen taten sich immer wieder mathematische Untiefen auf. Als es dem deutschen Mathematiker Karl Weierstraß und anderen gelang, das Unendliche bei der Differenziation und Integration zu umgehen und so eine solide Basis für die Differenzialrechnung zu schaffen, setzte sich der neue Zugang schnell durch.

Bilder: Getty Images (Archimedes, Newton, Agnesi), Imago (Kepler, Leibniz), gemeinfrei (Cavalieri, Weierstraß), Yale (Robinson)

Rechnen ohne unendlich

Die heutige Schreibweise, die suggeriert, dass dy/dx ein Bruch sei, täuscht also. Dahinter verbirgt sich keine echte Unendlichkeit. Bis auf ein paar Träumer, die sich mit lebensfremden Fragen wie der Möglichkeit einer Division durch null befassten, schien das niemanden zu stören. Doch im Schatten des Welterfolgs der Differenzialrechnung, den Isaac Newton mit seiner Mechanik selbst anstieß, machte die Behandlung der mysteriösen Infinitesimalen Fortschritte. Der Durchbruch gelang dem US-Amerikaner Abraham Robinson.

Geboren in Deutschland, folgte er seiner Familie 1933 nach Palästina, um in Jerusalem zu studieren. Nach weiteren Studienjahren in Paris musste er 1940 wieder vor den Nazis fliehen und entkam knapp nach England, wo er für das britische Militär an Deltaflügeln für Überschallflugzeuge forschte. Von Kanada verschlug es ihn in die USA. Nebenbei beschäftigte er sich mit der Frage, wie das Rechnen mit unendlichen Zahlen in die bekannte Mathematik integriert werden könnte.

1961 zeigte er, auf den Arbeiten von Kollegen aufbauend, dass mit unendlichen und infinitesimalen Zahlen problemlos gerechnet werden kann. Robinson konstruierte eine Menge, die gerade etwas größer ist als die reellen Zahlen, aber nicht so groß, um unbehandelbar zu werden. Die Idee ist, dass es Zahlen gibt, die größer sind als jede bisher bekannte Zahl. Dividiert man durch eine dieser Zahlen, entsteht eine "infinitesimale" Zahl, die kleiner ist als jede reelle Zahl. Als Robinson die Theorie der Öffentlichkeit vorstellte, saß im Publikum ein 25-jähriger Mathematikstudent namens Jerome Keisler.

"Ich lernte die Nichtstandardanalysis im Jänner 1961 kennen, als Abraham Robinson seine Entdeckung auf einer Tagung der American Mathematical Society bekanntgab", erzählt Keisler. "Zu dieser Zeit war ich Doktorand in Berkeley." Unter seinem Doktorvater, dem Logiker Alfred Tarski, beschäftigte er sich mit der sogenannten Modelltheorie, einem Teilgebiet der mathematischen Logik. Der aus Polen stammende Tarski hatte selbst Pionierarbeit in diesem Gebiet geleistet, stand einst mit Wiener Kreis und Kurt Gödel im Austausch und beeinflusste Karl Popper nachhaltig.

Die Entwicklung dieses Gebiets, das sich mit den Hintergründen mathematischer Theorien beschäftigt, sei eine Voraussetzung für den Durchbruch bei der Nichtstandardanalysis gewesen, sagt Keisler: "Die Geburt der Nichtstandardanalysis musste bis zum Erscheinen der Modelltheorie warten." Erst sie habe zeigen können, dass Beweismethoden von Analysis und Nichtstandardanalysis gleichermaßen gültig sind. "Daher ist es sicher, Infinitesimalzahlen zu verwenden", sagt Keisler. Doch die Beweisverfahren mit Nichtstandardanalysis haben einen entscheidenden Vorteil: Sie sind viel einfacher als die konventionellen Beweise.

Unendlichkeit im Unterricht

Für Keisler stellte sich die Frage, ob die einfacheren Zugänge nicht für den Schulunterricht geeignet seien. Wenige Jahre später machte sich Keisler an einen ersten Praxistest. "1969 unterrichtete ich eine erste einsemestrige Version der Differenzial- und Integralrechnung unter Verwendung von Infinitesimalen in einer kleinen Klasse mit Hochbegabten in Wisconsin", erzählt Keisler. Die Erfahrungen waren so positiv, dass Keisler ein Lehrbuch verfasste, das 1976 erschien. In den folgenden Jahren unterrichteten Keisler und mehrere seiner Kolleginnen und Kollegen in Wisconsin Hunderte von Schülerinnen und Schülern nach dieser Methode.

"Die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler waren enthusiastisch", sagt Keisler. Das lag daran, dass die Größen dx und dy in der Nichtstandardanalysis wirklich existieren, als unendlich kleine Größen. Mit ihnen lässt sich genauso rechnen, wie man es auf den ersten Blick vermuten würde. "Schülerinnen und Schüler in Kursen mit Nichtstandardanalysis schnitten besser ab als solche in Standardkursen", berichtet Keisler.

Eine wissenschaftliche Untersuchung gab Keisler recht. Nach ersten Versuchen im Jahr 1969 unterrichteten im Schuljahr 1973/74 fünf Pädagoginnen und Pädagogen in der Umgebung von Chicago Differenzial- und Integralrechnung unter Verwendung von Nichtstandardanalysis. 68 Schülerinnen und Schüler lernten auf diese Weise, noch einmal so viele erhielten konventionellen Unterricht und dienten als Kontrollgruppe.

Auffällig war, dass sich die Kontrollgruppe weniger zutraute als die Gruppe, die Nichtstandardanalysis gelernt hatte. Unendlich kleine Zahlen wurden überwiegend als natürlich wahrgenommen. Eine aktuellere Studie von 2018 bestätigte die Ergebnisse.

Fraktale sind geometrische Strukturen, deren Muster sich bei jeder Vergrößerung oder Verkleinerung wiederholt. Sie geben Einblick ins Unendliche.

Hintergrundwissen als Hindernis

Doch an dem Zugang gab es auch Kritik. "Die meisten Mathematikerinnen und Mathematiker sind mit der Modelltheorie nicht vertraut und unterrichten Infinitesimalrechnung lieber auf die übliche Weise", sagt Keisler. Aus diesem Grund gebe es ein begrenztes Angebot an potenziellen Lehrerinnen und Lehrern.

Die im Unterricht so nützliche Einfachheit benötigt also einen nicht zu unterschätzenden Unterbau an mathematischer Logik. Die Strukturen, die Robinson für seine Konstruktion benutzt, nennen sich Ultrafilter, sind wenig anschaulich und gehören zu dem in seiner Größe oft unterschätzten Feld jener Dinge, die sich auch dem ambitionierteren Wissenschaftsjournalismus entziehen. Es gibt noch eine alternative Formulierung der Nichtstandardanalysis, in der die Mathematik wie gewöhnlich aus der Mengenlehre entwickelt wird, allerdings mit drei zusätzlichen Axiomen, die einen Unterschied zwischen Standard- und Nichtstandardmengen einführen und erklären. Wer es genauer wissen will, muss also tief in die faszinierende Welt der Mathematik eintauchen.

Durchsetzen konnte sich der Zugang daher nicht. Das Unendliche ist in der Mathematik in vieler Hinsicht ein ungeliebtes Stiefkind. Man schätzt es seit seiner Zähmung durch den deutschen Mathematiker Georg Cantor als nützliches Mittel, um mächtige Theorien zu formulieren und beherrschbar zu machen. Sogar von "Cantors Paradies" ist manchmal die Rede – aus einem solchen lässt sich niemand gern vertreiben. Doch wenn das Unendliche einmal in den Vordergrund tritt wie bei der Nichtstandardanalysis, weichen viele lieber verschämt aus.

Auch in der Natur gibt es Hinweise aufs Unendliche. Eines der schönsten Beispiele sind die selbstähnlichen Muster des Kohlgemüses Romanesco.
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Wenige tun das so konsequent wie der Mathematiker Luitzen Brouwer, der echt Unendliches und alles, was damit verbunden ist, ganz aus der Mathematik entfernen wollte. Diese "intuitionistische" Mathematik, wie sie genannt wird, erlaubt es allerdings kaum, grundlegende Physik zu betreiben, mit weitreichenden Folgen für unsere hochtechnisierte Welt. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Robinson, dem, womöglich auch aufgrund seines frühen Todes nach einer Krebserkrankung, die höchsten mathematischen Auszeichnungen verwehrt blieben, ausgerechnet eine nach Brouwer benannte Auszeichnung erhielt.

Rechnen mit unendlichen Zahlen mag unnatürlich erscheinen, doch es war Leopold Kronecker, der einst bemerkte, dass nur die natürlichen Zahlen vom "lieben Gott" gemacht seien, der Rest sei Menschenwerk. Nichtstandardanalysis ist nach diesem Verständnis von Mathematik genau gleich natürlich oder unnatürlich wie die konventionelle Analysis. Welche man wählt, ist Geschmackssache.

Übrig bleibt ein Buch

Eine breite Verwendung unendlicher Zahlen in der Schule ist also bis auf weiteres nicht in Sicht. Keisler wirbt dennoch für seinen Zugang und gibt sich versöhnlich. "Mein Buch hat ein ungewöhnlich langes Leben für ein Lehrbuch", sagt der Mathematiker, der vor 20 Jahren zu unterrichten aufhörte, aber weiterhin in der mathematischen Forschung aktiv ist. Erst 2012 erschien eine weitere Auflage von "Elementary Calculus – an infinitesimal approach", inzwischen stellt er es auf seiner Website kostenlos zum Download zur Verfügung. Sein Buch über Modelltheorie gilt heute als Standardwerk.

Nichtstandardanalysis hat derweil abseits der breiten Öffentlichkeit verschiedenste Anwendungen gefunden. Als Beispiel nennt Keisler die Physik, die mathematische Ökonomie, Banach-Räume, stochastische und funktionale Analysis, Zahlentheorie, Algebra und Kombinatorik.

Auch wenn die Nichtstandardanalysis eine inspirierende Antwort für Schülerfragen rund um das Unendliche bieten kann, bleibt das Mysterium um den Nullpunkt der Division bestehen. Man kann der Null unendlich nahekommen und dabei faszinierende Welten entdecken, doch durch Null zu dividieren ist weiterhin verboten, der Nullpunkt bleibt auch für die Nichtstandardanalysis unerreichbar. (Reinhard Kleindl, 13.4.2023)