Kraken sind zu erstaunlichen Intelligenzleistungen fähig. Sie haben kein zentralisiertes Nervensystem mit einem Gehirn, ihre Neuronen befinden sich hauptsächlich in den Armen.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Heidi wurde im Schlaf weltberühmt. Ein Dokumentarfilm zeigte den weiblichen Oktopus vor einigen Jahren in einem Aquarium beim entspannten Schlummern. Plötzlich wechselte das Tier die Farbe, immer wieder, in kurzen Abständen. Binnen einer Minute wurde Heidis Haut erst strahlend weiß, dann gelb-orange, dann violett und fast unsichtbar im dunklen Wasser. Schließlich huschten grünlich-braune Flecken über Heidis zuckenden Körper, als wollte sie sich als Unterwasserpflanze tarnen.

Träumte Heidi etwa? "Wenn es ein Traum ist, dann ein dramatischer", sagte der Meeresbiologe David Scheel von der Alaska Pacific University in der Aufnahme, die 2019 veröffentlicht wurde. Heidis Farbenspiel erinnerte an ihre Tarnung auf der Jagd, beim Fressen, auf der Flucht. Aber können Kraken träumen?

Diese Aufnahme machte Heidi, den Oktopus berühmt.
Nature on PBS

Überraschung unter Wasser

Scheels Aufnahme sorgte für begeisterte Zuseher und für Diskussionen in der Wissenschaft. Einmal mehr gerieten die Oktopoden ins Rampenlicht der Forschung. Sie zählen zu den Kopffüßern, die in der Biologie wie andere Tiere ohne Wirbelsäule lange Zeit arrogant als "niedere Tiere" bezeichnet wurden. Weit sind sie evolutionär von den Wirbeltieren entfernt, zu denen auch wir Menschen zählen – der letzte gemeinsame Vorfahre, vermutlich ein Wurm, lebte vor etwa 600 Millionen Jahren. Die Entwicklung hätte seither kaum unterschiedlicher verlaufen können. Dementsprechend wenig traute man den Kraken, die Aristoteles einst als "dumme Geschöpfe" bezeichnete, zu.

Doch dieses Bild hat sich dramatisch gewandelt. Wie neue Forschungsergebnisse immer detaillierter zeigen, besitzen Oktopoden erstaunliche kognitive Fähigkeiten. Sie können durch Beobachtung lernen, vorausschauend handeln, Werkzeuge nutzen und menschliche Gesichter unterscheiden. Sie finden aus komplexen Labyrinthen heraus, entkommen aus zugeschraubten Gläsern und spielen sogar gern, offenbar aus reinem Vergnügen. Dass es unter Kraken aber nicht immer lustig zugeht, wurde erst kürzlich beobachtet: Bei schlechter Laune bewerfen sie Artgenossen schon einmal mit Schlamm und Muscheln.

Alternatives Nervensystem

Manche Fachleute vergleichen die Intelligenz der Oktopoden mit der von Hunden. Faszinierenderweise ist sie völlig anders aufgebaut, Kraken "denken" mit ihren Armen. "Sie haben kein zentralisiertes Nervensystem mit einem Gehirn wie wir, ihre Neuronen sind über den Körper verteilt – zwei Drittel davon befinden sich in den Armen", sagt Ludwig Huber von der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Der Kognitionsforscher hat sich in seinem Buch "Das rationale Tier" (Suhrkamp 2021) eingehend mit tierischer Intelligenz und der Frage beschäftigt, ob Tieren Rationalität und ein höheres Bewusstsein zugesprochen werden kann.

Hunde erkennen sich zwar nicht selbst im Spiegel, zeigen aber viele andere Merkmale höherer Intelligenz
Foto: Getty Images/iStockphoto

"Ich denke, wir stehen noch am Anfang zu verstehen, was die Prozesse sind, die für eine höhere Art von Denken, Bewusstsein und Rationalität eine Rolle spielen", sagt Huber. "Aber wir schreiten mit Einsichten aus der Neurobiologie und immer ausgeklügelteren Tests in der Verhaltensbiologie und Psychologie voran."

Tierisches Sextett

Huber sieht dabei einen regelrechten Umbruch: Die Entdeckung verblüffender Verstandesleistungen bei immer mehr Tiergruppen, denen bis vor kurzem nur Instinktgetriebenheit zugeschrieben wurde, stelle nicht nur die Forschung selbst auf den Kopf. "Da werden noch gewaltige Irritationen auf uns Menschen zukommen, weil unsere wachsenden Erkenntnisse über Tiere große ethische Implikationen mit sich bringen." Aber wie können wir uns überhaupt der Frage annähern, wie intelligent andere Spezies sind und ob sie gar ein höheres Bewusstsein haben?

Huber, der sich in seiner Forschung unter anderem mit Tauben, Papageien, Schweinen und Hunden beschäftigt, schlägt in seinem Buch Kategorien vor, die er das "Sextett der tierischen Intelligenz" nennt. "Dabei handelt es sich um Denkleistungen, die bei uns Menschen ohne Bewusstsein nicht möglich wären. Wenn wir diese auch bei Tieren finden, ist also wahrscheinlich Bewusstsein im Spiel", erklärt der Biologe.

Papageien fallen schon längere Zeit durch kognitive Höchstleistungen auf. Gemeinsam mit den Raben und Krähen zählen sie zu den intelligentesten Vögeln.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Übliche Verdächtige – und überraschende Neuzugänge

Hubers Sextett umfasst die Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen und zu nutzen, was wiederum eng an ein Verständnis für Kausalität geknüpft ist. Auch vorausschauendes Handeln, also Planung, zählt dazu, ebenso wie episodisches Gedächtnis – die Fähigkeit, sich selbst in vergangene oder zukünftige Situationen zu versetzen. Zu wissen, was man weiß und was nicht, fällt in die Kategorie Metakognition, während mit "Gedankenlesen" gemeint ist, sich in andere hineinversetzen zu können, also die Perspektive eines Gegenübers einzunehmen.

Entlang dieser Kategorien zeigt Huber in seinem Buch anhand zahlreicher empirischer Forschungsergebnisse aus Verhaltensexperimenten und Freilandbeobachtungen auf, für welche Tierarten sich derartige Intelligenzleistungen nachweisen lassen. Zu den üblichen schlauen Verdächtigen, die neben den Menschenaffen längst andere Säugetiere wie Delfine, Ratten und Elefanten, aber auch einige Vogelfamilien umfassen, tauchen bislang unterschätzte Tiere auf. Fische, Frösche und Schildkröten etwa. Und im Reich der Wirbellosen beeindrucken nicht nur die Oktopoden mit überraschenden, hohen Geistesleistungen, sondern sogar einige Insekten: Bienen und Hummeln.

Hummeln sind die kleinen Superstars der Kognitionsforschung. Jüngste Forschungsergebnisse krempeln bisherige Annahme zur Intelligenz von Insekten um.
Foto: AP/Martin Meissner

Zählende Bienen, spielende Hummeln

Erst in den vergangenen Jahren fanden Forschende heraus, dass die fleißigen Bestäuber Werkzeuge nutzen können. In Experimenten mussten Hummeln zum Beispiel an einem Faden ziehen, um an verborgenes Zuckerwasser zu gelangen. Erstaunlicherweise meisterten sie das Leckerli-Problem nicht nur durch einige Übung selbst aktiv, sondern lernten die Technik auch, indem sie ihren Artgenossen dabei zusahen. Andere Versuche zeigten, dass Bienen zählen können (zumindest bis vier) und sich menschliche Gesichter merken.

Der deutsche Bienenforscher Lars Chittka, der kürzlich mit seinem Team an der Queen Mary University of London Spielverhalten bei Hummeln entdeckte, gesteht den Bestäuberinsekten sogar gewisse Persönlichkeitsmerkmale zu: So gebe es Bienen, die sich schneller Farben merken könnten als andere, oder Individuen, "die immer nur eine Art von Blüte besuchen, und andere, die ständig neue ausprobieren", erzählte Chittka kürzlich im "Spiegel". "Das ist eine Eigenschaft, die sie ihr ganzes Leben über beibehalten."

Der Kognitionsforscher Huber ist angesichts solcher Ergebnisse davon überzeugt, dass wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch viele Überraschungen erleben werden. "Bis vor wenigen Jahren war es vollkommen unvorstellbar für uns Forscher und Forscherinnen, dass es so etwas bei Bienen und Hummeln gibt, die ein Gehirn haben, das im Vergleich zu Säugetieren winzig ist", sagt Huber. "Lange wurde angenommen, ein kleines Gehirn versehe ein Tier mit geringer Rechenkapazität, und Bienen galten daher als rein instinktgesteuert."

Delfine im Spiegel

Den Standardtest zur Erforschung der Selbstwahrnehmung hat aber noch kein Insekt gemeistert: sich selbst im Spiegel zu erkennen. Das gelang bisher nicht vielen Tierarten, doch die Liste wächst zusehends. Bei diesem Test wird in verschiedenen Varianten überprüft, ob sich ein Tier selbst im Spiegel erkennt. Als besonders deutlicher Indikator gilt der Fleckentest. Dabei wird unbemerkt eine Körperstelle markiert, die vom getesteten Tier ohne Blick in den Spiegel nicht gesehen werden kann – etwa die Stirn. Dann wird beobachtet, ob das Tier begreift, dass sich die Markierung am eigenen Körper befindet.

Delfine meistern den Spiegeltest – und haben Spaß dabei, wie die Forscherin Diana Reiss nachwies.
BBC Earth

Vor gut 50 Jahren konnte der US-amerikanische Psychologe Gordon Gallup erstmals zeigen, dass Schimpansen zu dieser kognitiven Hochleistung imstande sind. Bald folgten Nachweise für andere Menschenaffen. In den letzten zwanzig Jahren wurde klar, dass auch Elefanten und einige Vogelarten wie Raben, Krähen und Keas verstehen, wen sie im Spiegel vor sich haben. In einer Untersuchung der Psychologin Diana Reiss vom Hunter College in New York schafften 2001 erstmals auch Delfine den anspruchsvollen Test – inzwischen konnte sie zeigen, dass die Meeressäuger uns Menschen sogar gewissermaßen übertreffen: Denn die Tiere zeigen bereits im Alter von sieben Monaten klare Anzeichen für Selbstwahrnehmung im Spiegel, während sich die Fähigkeit bei Kindern erst ab etwa zwölf Monaten manifestiert, bei Schimpansen ab zwei Jahren.

Erkenne dich selbst

Die Phasen des Selbsterkennens im Spiegel seien bei den unterschiedlichen Spezies sehr ähnlich, sagt Reiss: "Am Anfang zeigen sie Sozialverhalten, berühren und untersuchen den Spiegel. Das machen Menschen, Affen, Delfine und Elefanten. Dann beginnen sie, sich ungewöhnlich zu bewegen und scheinen zu bemerken, dass dieses Gegenüber im Spiegel das Gleiche tut. Irgendwann kommt der Moment, wo ihnen das Licht aufgeht – und dann nutzen sie den Spiegel als Werkzeug, um sich selbst zu untersuchen."

Faszinierend auch im Hinblick auf höhere Intelligenz sei dabei, wie individuell sich die Tiere verhalten, wenn sie herausgefunden haben, dass es sich um ihr eigenes Abbild handelt, sagt Reiss. "Manche sehen sich gerne selbst beim Essen zu, untersuchen ihren Mund oder ihre Genitalien. Andere holen Gegenstände und spielen vor dem Spiegel, wieder andere interessieren sich nicht besonders dafür." Die Psychologin sieht im Spiegel ein einfaches, aber elegantes Werkzeug der Tierforschung: "Wir können die mentalen Prozesse nicht sehen, die sich in Tieren abspielen, aber wir erhalten buchstäblich eine Reflexion davon, indem wir mitverfolgen können, wie sich ihre Wahrnehmung mit der Zeit verändert."

Verblüffende Fische

Während viele zweifellos sehr intelligente Tierarten den Spiegeltest mit Markierung nicht bestehen, darunter Hunde, Katzen und auch Kraken, bekam der erlauchte Kreis der erfolgreichen Absolventen kürzlich unerwarteten Neuzugang: Putzerfische erkennen ihr eigenes Abbild offenbar und versuchen vor dem Spiegel eifrig, farbige Markierungen von ihrem Körper zu entfernen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die tropischen Meeresfische für Verblüffung sorgen. Sie leben nicht nur von der Kooperation mit anderen Fischen, denen sie Parasiten von den Schuppen fressen und die sie stets wiedererkennen (darunter auch Raubfische, die ausnahmsweise friedlich bleiben). Die Putzer wenden ausgeklügelte Tricks an, um neue Kundschaft zu gewinnen – und unliebsame Stammkunden loszuwerden.

Schrumpfender Abstand

Für Ludwig Huber machen Befunde über derart erstaunliche Intelligenzleistungen bei unterschiedlichsten Tieren die Diskussion immer brisanter, wie wir mit anderen Spezies umgehen. "Wenn wir ethisch handeln wollen, geht es nicht allein darum, Schmerz zu vermeiden. Es geht auch um Leid, das mit verunmöglichten Interessen verbunden ist, mit verhinderten Entscheidungen und Vorstellungen. Das ist etwas, das wir Menschen über Jahrhunderte einzig und allein uns selbst zugeschrieben haben. Aber diese Kluft zwischen uns und dem Tierreich wird zunehmend kleiner."

Orang-Utans stellten schon in vielen Experimenten ihre Problemlösungskompetenz unter Beweis. Werkzeuge verwenden sie auch in freier Wildbahn.
Foto: Getty Images

Das gilt sogar für den gefühlten Abstand zu so fernen Verwandten wie den wirbellosen Oktopoden. Das Video des schlafenden Oktopus Heidi löste in der Wissenschaft Kontroversen aus, ob Kraken tatsächlich träumen können. Inzwischen mehren sich die Hinweise darauf: Forschende entdeckten, dass Oktopoden eine aktive Schlafphase durchlaufen, in der Farbänderungen öfter auftreten. Herauszufinden, wovon Kraken genau träumen, wird aber wohl ein Traum der Wissenschaft bleiben. (David Rennert, 3.5.2023)